Einleben
Einiges hat sich getan in den letzten Tagen. So viel vorweg: Mustafa hat sich schon ziemlich gut eingelebt.
Am Donnerstagvormittag war Mustafa mit Andi einkaufen, denn wir brauchten noch Unterhosen für ihn. Außerdem mussten neue Turnschuhe für Alma gekauft werden – ihre Schulturnschuhe sind auf mysteriöse Weise in den Ferien in unserem Haus verschwunden. Ganz toll!
Andi setzte Mustafa also ins Auto und fuhr los. Unterwegs zeigte er ihm Kühe, Bäume usw. – und dann fing auch Mustafa an zu erzählen. Unterhosen zu kaufen, fand er vollkommen überflüssig, er schüttelte den Kopf, schnalzte unterstützend mit der Zunge und ließ offenbar eine Protesttirade los, als Andi mit den Unterhosen zur Kasse ging. Aber jetzt zieht er sie durchaus an.
Beim Schuhekauf für Alma war er mit den Modellen, die Andi vorschlug, nicht einverstanden und zeigte auf andere (mit Spikes). Im Endeffekt konnten sie sich dann aber einigen.
Am Nachmittag war er wieder traurig, ließ sich jedoch bereitwillig von mir trösten und in den Arm nehmen. Heimlich versuchte er, den DVD-Spieler zum Laufen zu kriegen. Auch an der herumliegenden Schokolade bediente er sich freimütig – zum Entsetzen unserer Kinder.
Wenn ihm unsere Nähe zu viel wird, geht er weg und sieht sich die Wimmelbücher an. So saß er auch allein auf unserem Bett, als unser Besuch kam – eine Freundin aus dem Texttreff mit Mann und Kind (16 Monate). Der Trubel machte ihn offenbar neugierig und einige Minuten später gesellte er sich zu uns.
Er probierte dieses und jenes beim Essen, so richtig konnte er sich aber für nichts erwärmen, obwohl er sich beim Türken Oliven und Ayran ausgesucht hatte. Auch Kürbiskerne hatte Andi gekauft, die Mustafa mit Schale kaut und den so entstehenden Brei irgendwo hinspuckt. Die Idee, die Pampe in eine Schüssel zu spucken, akzeptierte er wohlwollend. Nach dem abendlichen Zähneputzen wollte er gern fernsehen; Buch angucken war dann aber auch in Ordnung.
Freitag war der große Tag des Telefonats mit Afghanistan. Nachdem unsere Kinder in der Vorschule und im Kindergarten waren, rief ich mit Vorvorwahl an. Handynummer. Erst war die Nummer nicht vergeben, dann besetzt – aber dann klingelte es. Es klang ziemlich weit weg, als sich eine Männerstimme meldete, und ich reichte den Hörer direkt Mustafa, der gerade wieder traurig vor der Weltkarte in Almas Zimmer saß. Der brach am Telefon zunächst vollkommen zusammen, wurde aber wieder munterer, während sein Vater in einer atemberaubenden Geschwindigkeit auf ihn einredete. Als seine Mutter ans Telefon kam, weinte er wieder los, dann übernahm seine offenbar jüngere Schwester das Handy und schließlich meldete sich der Onkel. Der kann gut Englisch und teilte Andi dann auch mit, dass Mustafa gern Reis und Linsen isst und unbedingt Computerspiele spielen will. Außerdem teilten sie uns mit, ihre Verwandten in England und Deutschland würden sich mal melden und uns besuchen. Nicht, dass ich etwas gegen afghanischen Besuch hätte, aber uns war vorher gesagt worden, dass Besuche von Verwandten nicht gern gesehen sind, da sie einerseits das Heimweh der Kinder verschlimmern und außerdem die Gefahr bestünde, dass das Kind „verschleppt“ wird, um im Westen bleiben zu können. Ich kann mir das kaum vorstellen, aber ich kann mir auch nicht vorstellen, unter den Bedingungen, die in Afghanistan herrschen, leben zu müssen. Der Paschto-kundige Arzt der Herzbrücke wird mit Mustafas Eltern sprechen.
Nach dem Telefonat war Mustafa einigermaßen geknickt, ich hätte es mir aber schlimmer vorgestellt. Ich musste kurz darauf mit meinem Vater aufbrechen. Wir wollten – kleiner Exkurs – die Halbschwestern von Papas Cousin treffen, dem Einzigen Verwandten, der das Blog verfolgt und mir immer gern Hinweise zu den Briefen gibt. Er wohnte mit seinen Schwestern auf dem Gut und hat die Flucht ebenfalls mitgemacht, ein paar Tage noch als meine Großmutter. Seine Schwestern waren damals 10 und 14, konnten sich also noch an Details erinnern. Ich traf sie zum ersten Mal, mein Vater kannte sie flüchtig. Ein sehr spannender Vormittag, an dem viele offene Fragen ihre Antworten fanden. Exkurs Ende.
Als ich fort war, spielte Mustafa zunächst friedlich mit seinem Gastpapa und umarmte ihn, als der Linsen kochte. Essen wollte er sie dann aber doch nicht. Plötzlich wurde er aggressiv und stellte offenbar das halbe Haus auf den Kopf, sprang auf dem Esstisch herum und spuckte seine Kürbiskerne durch die Gegend. Andi musste sehr vehement einschreiten und Mustafa hat sich dann auch wieder gefangen.
Ich habe das Gefühl, dass es Mustafa sehr verunsichert, wenn einer von uns fortgeht. Wir können ihm ja nicht sagen, wie lange wir wegbleiben. Aber natürlich muss er lernen, dass für ihn die gleichen Regeln gelten wie für unsere Kinder.
Inzwischen sind Mustafas Klamotten in einem gebrauchten Malm untergebracht, an dem das Foto von ihm und seinem Vater klebt. Nun hat er seine eigene Ecke in Antons Zimmer. Wenn er sich abends auszieht, stopft er seine Kleidung gewissenhaft in die oberste Schublade. Ist er traurig, verzieht er sich auf sein Bett und betrachtet von dort das Foto. Mit Büchern kann man ihn eine gewisse Zeit ablenken, dann macht er einem deutlich, dass es reicht und er lieber allein sein möchte. Laut weinen tut er aber gar nicht mehr.
Als ich mit meinem Vater wiederkam, setzte sich Mustafa gemeinsam mit Alma auf seinen Schoss. Huch! Ich konnte gar nicht glauben, wie er sich in meiner Abwesenheit benommen hatte, denn er war die Ruhe selbst.
Das Ins-Bett-Gehen war vollkommen komplikationslos. Mustafa schläft quasi in dem Augenblick ein, in dem sein Kopf das Kissen berührt.
Der heutige Tag bescherte uns endlich Sonnenschein, sodass wir einen Spaziergang an die Elbe machten und die Kinder durch Pfützen und Schlamm waten konnten.
Mustafas Appetit hält sich noch in Grenzen, nimmt aber zu. Eine der wenigen Auflagen, die uns die Herzbrücke gemacht hat, ist natürlich, den Kindern kein Schweinefleisch zu geben. So haben wir jetzt Geflügelwurst im Haus. Unsere oben erwähnten Freunde haben Andi jedoch aus dem Schwarzwald ein schönes Stück Schinken mitgebracht, von dem Andi zum Abendbrot ein paar Stückchen abschnitt und vollkommen vergaß, welches Tier dafür hergehalten hatte. Und zack! kam Mustafa und steckte sich ein Stück in den Mund. Na gut, passiert. Blöd. Noch blöder war allerdings, dass ihm dieses Stück Schinken unglaublich gut geschmeckt hat und wir ihm nun klarmachen mussten, dass das kein Essen für ihn ist. Ich grunzte und schüttelte den Kopf, er sah mich böse an. Ich nehme an, dass man in Afghanistan gar keine aus Schwein zubereiteten Lebensmittel bekommt. Kennt er Schweine dann überhaupt? Hält man sich Schweine, wenn man sie nicht essen will?
Die als Alternative Gemüsemortadella schmeckte ihm aber auch gut und nunmehro isst er am liebsten Reis mit Wurststückchen drin.
Ich bin schon mehrfach gefragt worden, wie sich so ein Gastkind mit unserer Arbeit verträgt. Ich bin Freiberuflerin und arbeite zu Hause, vormittags gewissenhaft, nachmittags auf Sparflamme. Manchmal klappt es mit den Kindern, manchmal wollen sie alle fünf Minuten etwas von mir. Mein Mann arbeitet nachmittags an der Musikschule oder zu Hause. Es ist also immer jemand da, der sich um Mustafa kümmern kann.
Eure Spenden sind weiterhin willkommen, vor allem natürlich direkt bei der Herzbrücke. Von der Höhe der eingegangenen Spendengelder hängt es ab, wie viele Kinder in Deutschland operiert werden können. Alles, was bei uns an Spenden ankommt und nicht direkt für Mustafa verwendet werden kann, überweisen wir später an die Herzbrücke.
Gesa, ich finde deine Berichte wirklich sehr, sehr spannend. Man merkt, wie schwierig es für alle erstmal ist, mit der Situation umzugehen. Vor allem für Mustafa, der ja ganz allein in einem fremden Land und einer ihm unbekannten Familie ist. Aber ich finde es toll, dass er augenscheinlich schon Vertrauen zu euch gefasst hat. Und zu deinem Vater. Andererseits erstaunt mich das auch nicht. Ich kenne dich ja.