31.05.1935: ein unerhörtes Glück (Ingrid)

Der erste Brief in lateinischer Schrift! Er ist von Ingrid, Rudus Frau. Sie schreibt offenbar recht schnell (sagt sie auch selbst), jedenfalls finden sich ein paar Wirrheiten. Wenn es das Lesen zu sehr erschwerte, habe ich ein paar Kommas ergänzt. Ingrid beschreibt das für sie ganz neue Leben in Guatemala, ihren Umgang mit dem Personal usw. sehr anschaulich, auch ihre eigene Ungeduld. Natürlich sind das recht herrschaftliche Probleme – herrschaftlich und mir sehr fremd. Daher eben auch interessant.


Hotel San Rafael, d. 31.5.35.

Meine liebe Leni,

Schon so lange hatte ich Dir schreiben wollen, Dir erzählen von unserem Haus, von unserem gemeinsamen Leben auf der Finca und sovielen anderen. Und nun muß erst Dein Geburtstag der Nachdruck verleihende Anlaß sein, aber gut daß er naht; denn sonst hätte ich diesen Brief vielleicht zu Weihnachten fertig gekriegt – Du ahnst nicht, was zu schreiben vorliegt, was noch nicht beantwortet seit Monaten wartet und wartet; und wie die Zeit der Ehefrau ausgefüllt!
Leider ist noch kein Mittel gefunden dem anderen auch ohne Brief die Gedanken und das Mitfühlen zu zeigen, was durch Deine beiden Briefe an Rudu noch in so besonderem Maße lebendig wurde. Leni wir waren in Gedanken so oft bei Dir, und wenn ich Dir jetzt sehr viel liebe Wünsche schicke, dann hoffe ich so von Herzen, daß jeder einzelne recht bald zur schönsten Wirklichkeit wird! Und wenn die Erfüllung der meisten auch noch in weiter Ferne liegen wird, so ist die Zwischenzeit durch den Gedanken an die Zukunft und an die Arbeit, die Dir Freude macht gewiß schön und leicht zu ertragen. Wie freuen wir uns alle zu hören, daß Du Dich so glücklich in München fühlst, ich kann mir Deine Seligkeit über das nette Zimmer, die anregende Stadt und die Arbeit mit schönen praktisch zu verwertenden Dingen so vorstellen! Man tut ja auch alles so viel ernsthafter wenn man weiß wofür. Ich kann es auch meiner Leipziger Zeit heraus so gut verstehen. Und Du hast es so verdient finde ich, weil Du in der Zeit vorher doch keine freie Minute für Deine eignen Dinge übrig hattest.
Wenn ich nur jetzt wüßte, ob Du Mama und Papa schon gesprochen hat, wenn dieser Brief Dich erreicht; vielleicht hörtest Du nun schon vieles mündlich was ich Dir schreibe, aber das macht ja auch nichts.
Du wirst Dich wundern, daß ich in San Rafael bin, nun schon 2 ½ Wochen um ein bißchen Blutarmut, die ich durch eine ganz blöde Darminfektion bekam, zu kurieren. Du erinnerst vielleicht, daß Hertha hier auch mal war, es ist ein sehr gemütliches , schönes Hotel von einem sympathischen Schweizer Ehepaar geführt oberhalb Guatemalas 2020 m hoch. Bisjetzt hatte ich nur Sonnentage, obgleich die Regenzeit beginnen sollte, also ein unerhörtes Glück. Ich nütze die Zeit mit den schönsten Touren aus auf die Höhenzüge von wo man die mächtigen Vulkane ganz dicht vor sich sieht, in die Brombeeren teils alleine teils mit der Schweizerin. Die letzten Tage verliefen jedoch garnicht kurgemäß, es kam viel Besuch, die N’s, E., E., Frau R. und Maegli teils um mich, Teils um Frau B.[,] eine Dame aus Honduras[,] sehr interessiert und nett, die auch hier oben ist, zu besuchen. Wir taten uns zu herrlichen Spaziergängen zusammen und spielten Poker am Abend[,] es waren alles so nette Menschen. Ich denke stets, dass Rudu daß doch miterleben könnte. In 2 Wochen aber sehen wir uns wieder, es ist doch eine schrecklich lange Trennungszeit! Und wie gut habe ich es noch gegen ihn; allein auf der Finca in dem Regen, allein abends in unserem Haus – Du kannst Dir nicht denken wie ich mich nach U. zurücksehne. Ich hoffe sehr daß ich das immer wiederkehrende Kolerinchen bis dahin beseitigt habe. Eine Darmsache in den Tropen soll das langwierigste sein was es gibt und man macht mit europäischer Einstellung lauter Fehler, die Erfahrung muß man erst selber machen. Ich bin bei einem Arzt der aus de repente Pillen verschreibt, die solange sie wirken einen zum gesündesten Menschen machen, der Rückfall kommt aber immer wieder. So jetzt Schluß von diesen Krankheitsgeschichten – Du mußt von U. hören, meinem geliebten U. unserm Häuschen, Leni, daß jetzt, dank Mamas emsiger Hilfe beim Gardinennähen und tatkräftigen Aussortieren für uns unter den B. Dingen, so unendlich gemütlich und hübsch ist; könntest Du sein rotes Dach in alle dem Grün leuchten sehen von A. U. aus oder das hübschgemaserte Holz der Innen- und Aussenwände bewundern! Es tront hoch über allem andern auf dem kleinen Hügel, den man bei Regen herunterglitscht, und der rückwärts in einem jung angepflanzten Kiefernwald verläuft. Auf halber Höhe liegt mein Gemüsegarten, der uns sehr ans Herz gewachsen ist. Allerdings verdanken wir eine Riesentomatenernte mehr dem Klima, daß alles 3 x so schnell wachsen läßt, als meinem noch sehr dem Glückszufall unterstehenden agriculturellen Können. Ich hatte den Samen dies Saln nicht rechtzeitig, man muß im Dez. Kor. pflanzen, meine Sämereien bekommen schon zu viel Regen. Herr B., der Verwalter ist mein einziger Berater, denn Candids der Gärtner, der ebenso faul ist wie sein Name den „Reinen“ wiedergibt, läßt die eben angekommenen Rosenstecklinge in unserer Abwesenheit verkommen und hat auf alle Schimpfwörter unseres noch sehr kleinen Repertoirs ein breites Lächeln. Ja das Spanisch! Rudu fehlt es besonders im Verkehr mit den Mogos. Man kann nicht gleich alles verlangen und muß Geduld haben, aber ich rede ja eigentlich nur mit Pancha und Polycarpa, einen Bruchteil des Tages die Gelegenheit zum sprechen ist so gering! Hier oben habe ich mich auf die Grammatik gestürzt, aber die Conversation fehlt.
Pancha ist unendlich gefällig, Du glaubst nicht mit welcher ehrlichen Begeisterung und Anteilnahme sie die Fußböden bohnert! Sie macht Vignas aus den Füßen[,] serviert aufmerksam und ist richtig unentbehrlich. Mit Polycarpa ist schwer umzugehen. Ich war bisjetzt einmal in der Küche, sowie man sich dort blicken läßt, schießt sie heraus, blockiert den Eingang und nimmt mir wohlmöglich meine unvollkommene Ausdrucksweise übel. Sie kocht ja gut und appetitlich in diesem Loch von Küche, die gleichzeitig Aufbewahrungsort aller Vorräte ist! – aber wiederholt sich zu oft, sodaß ich mir jetzt allerhand Zutaten und Rezepte nennen lasse, die ich ihr aufzwingen werde. Im Ganzen bin ich ja dankbar, daß sie existiert, so konnte ich mich erstmal ganz auf unser Haus beschränken, aber es bedrückt mich etwas Und sie [das gehört da wohl nicht hin] den andern so wichtigen Hausfrauenpflichten so fern zu stehen und z. B. garnicht zu wissen was auf den Tisch kommt. Geduld, Geduld – es ist schon gut so. Ich muß an Hertha denken, wielange hat es gedauert bis sie selbstständig befehlen konnte! Jetzt nach 5 Jahren ist die Küche erst fertig geworden in V. Rudu und ich sind so selig auf der Finca und es kommt uns vor als ob wir immer dagewesen wären. Der schönste Moment des Tages ist der wenn Rudu’s Tramsschritt gegen 7 Uhr abds draußen zu hören ist, und er sich so richtig freut, in unserem Reich zu sein. Man freut sich auf einander als ob man sich den ganzen Tag nicht gesehen hätte, und es stimmt bis zum gewissen Grade denn zu den Essenszeiten ist Herr B. ja immer dabei. Ab ½ 9 Uhr sind wir dann ganz für uns, der Weg bei Sternenschein zusammen herauf, die tausend Glühwürmchen, der Blick auf die Berge, die im Mondschein so unwirklich schön daliegen, wie glücklich und dankbar sind wir, daß wir es so gut haben! Dann kommt noch eine gemütliche Runde im Wohnzimmer bei irgend einem Buch oder Ulles Beethoven Konzert. Im Eignen für sich, Leni es gibt nichts Schöneres! Um uns herum die selbstentworfenen Möbel, der Zedernholzschreibtisch, der Schlafzimmerschrank, die wir langsam entstehen sahen, z. T. mit poliert haben, man liebt das kleinste Bild, die kleinste Vase es gehört zu unserm Leben zu zweit. Ich schicke Dir Bilder von den Zimmern, am fertigsten und schönsten ist das Schlafzimmer und mit der bunten Bettüberdecke und den Gardinen die denselben Stoffstreifen tragen. Du wirst von Mama hören wie die Stoffreste, bis auf den Zentimeter auskamen, (aus B. bekamen wir die Reste) Für das Badezimmer kauften wir uns eine Wanne, 1 billigen Badeofen und ein Klo, es fehlt noch die Leitung, wir schöpfen noch aus der torna.
Du, ich trage Deine Reites viel! Sie passen so gut in die Umgebung! Nachdem ich 14 Tage in der Hauptstadt (bei W.s) gewohnt und so allerhand von den Menschen dort gehört und gesehen habe, preise ich mich glücklich nicht dort wohnen bleiben zu müssen, sondern zur Finca zurückzukommen. Dies Getratsche, diese Cafés, diese Nichtstadt Guatemala! Bei W.s sind Rudu und ich sehr freundlich und herzlich aufgenommen, ich kann sie jeder Zeit um etwas bitten, Sonntag besuchen sie mich. Frau W. ist unproblematisch aber die allersympathischste Dame aus Guatemala, jedenfalls treffen wir uns in gleichgesinnter Natürlichkeit.
In der ersten Zeit haben wir sehr viele Reittouren gemacht, ich meist auf Werner K.s Mula, die ihre Nervosität mit der Zeit verloren hat. Durch alle Cafetales („Camilla“ kommt prächtig, und erfüllt das ganze Blickfeld vom Schreibtisch aus gesehen) bindend, wie schön ist’s im Urwald! Ditmar, der ca 5 Wochen bei uns wohnte brachte uns das Autofahren bei, nur am Schalter haperts noch etwas. Aber von P. zur Finca komme ich ohne Zwischenfall.
Jetzt wird das alles etwas in den Hintergrund gedrängt, denn im Dezember, Leni, werden wir zu dreien dort oben hausen, Du hast es sicher schon gehört. Es ist mir selber noch ein so unvorstellbarer Gedanke, daß plötzlich ein kleines Wesen in unser Leben treten wird, ein sehr glückseliger heimlicher Gedanken, den wir noch tief in uns verschließen und über den ich Dich bitte auch noch ganz zu schweigen. Es ist ja nun so enorm wichtig, daß ich schnell wieder auf den Damm komme!
Was wirst Du zu Rugi gesagt haben, dem süßen Kerl als wir um Weihnachten in V. waren und ich soviel mit ihm zusammen war, habe ich mir zum ersten Mal ein Kind gewünscht. Hertha wirst Du ja auch begegnet sein. Ich halte doch sehr viel von ihr!
Leni hast Du Ski gelaufen? Und nette Menschen kennen gelernt? Was macht Richard nun eigentlich? In den Sommerferien kommst Du doch sicher nach N.? Ich denke so viel an den Frühling, in N. und R. Ostern war es gewiß nett dort!
Vor einem Jahr war unser Empfangstag, wir retteten uns aus dem Besuche machen zu Mamas Geburtstag nach N.! Jetzt bin ich in San Rafael!
Leni, ich will Schluß machen. Die vorgerückte Stunde zaubert diese Schrift aufs Papier, entschuldige, ich konnte durch die Fülle des Stoffs nicht rasch genug schreiben.
Ich wünsche Dir nochmals alles Gute, einen schönen Geburtstag, und schließe Rudus Wünsche hier mit dran, denn er kommt vielleicht nicht zum schreiben, obgleich ich ihn erinnerte, da er zuviel zu tun hat, er ist abends so totmüde. Grüße alle Lieben die gerade um Dich sind und auch Friedrich sehr herzlich. Ich hoffe so, daß seine er sich in seine Arbeit gefunden hat, und er schnell voran kommt.
Viel Liebes von
Deiner Ingrid.


Ingrid ist, wie wir wissen, schwanger. Nebenbei plagt sie das „Kolerinchen“, der Durchfall also. Mir kommt sie in diesem Brief sehr atemlos vor, niedergestreckt von den ganzen neuen Eindrücken, die auf sie einprasseln. Schade, dass die Bilder von dem Haus nicht mehr vorhanden sind!

„Camilla“ dürfte eine Kaffeesorte sein.