21.06.1934: Du mußt Nachsicht üben. (Rudu)

Schon wieder Geburtstag! Leni wird an diesem Tag (Rudu schreibt also wieder nicht rechtzeitig) 25 Jahre alt. Leider wird wieder nichts Politisches erwähnt.


R., den 21. Juni 34.

Liebe Leni!

So friedlich und ruhig ist alles hier, ich sitze allein in der S.schen Wohnung und meine Gedanken wandern nach N., wo Ihr sicher Deinen Geburtstag heute gebührend feiert. Von Herzen alles Gute Dir zum neuen Lebensjahr! Hoffentlich findest Du etwas, was Dich ausfüllt und Dir Befriedigung verschafft.
Meine Glückwünsche kommen verspätet, Du mußt Nachsicht üben. Gestern abend reiste Ingrid ab und bis dahin war die Zeit so voll besetzt. Am Tage vorher waren wir in Travemünde zusammen, gestern wurde Ingrid leider noch etwas krank, dazu viel Hin und Her am Kontor – kurz, die Ruhe fehlte, um Dir rechtzeitig zu schreiben. An sich wollte ich auch selbst erscheinen, doch meine Reise nach England bedarf noch einiger Vorbereitung, auch wartet sonstiges hier noch auf mich. Mit Mama habe [ich] noch kurz über ein Geschenk für Dich gesprochen und möchte Dich nun gern selbst fragen, ob ich Dir ein Buch aussuchen darf oder ob Du für Dein neues Rad gern eine Lampe haben möchtest? Es gibt die neuen Lampen mit auswechselbaren Batterien. Vielleicht äußerst Du Dich mal kurz, ich würde Dir gern das schenken, was Dir Freude macht.
Für meine Englandreise wäre es sehr nett, wenn Du Papa am Montag das mitgeben würdest, was Du beabsichtigtest. Ich gehe zu einem Mr. Pledge nach Eastbourne, der glaube ich ein sehr geeigneter Mann ist für das, was ich vorhabe. Seine Frau ist eine Schwester des netten Herrn P., durch den ich auch die Adresse bekommen habe. Es soll ein sehr gelehrtes Haus sein.
Heute war ich mit Ulle und einer Freundin von ihm zusammen. Wir haben uns sehr gut unterhalten. Die beiden lesen sich in ihrer freien Zeit Goethes „Wahlverwandtschaften“ vor, sie gibt ihm sehr viel Anregung. Sonnabend gibt Ulle eine kleine Gesellschaft, es ist zu schade, daß Ingrid nicht mehr hier ist.
Papa wird Dich nach der Adresse von Ull Richard fragen, die Du ihm unbedingt sagen mußt. Es kann für Richard von großem Wert sein.
Grüß in N. alle, vor allem die Eltern und den guten Albrecht. Laß Dir einen innigen brüderlichen Kuß geben von
Deinem Rudu.


Die S.sche Wohnung ist die von Ingrids Eltern, also die zukünftige Schwiegerelternwohnung. Warum Rudu dort trotz Ingrids Abwesenheit noch weilt, ist mir nicht ganz klar. Immerhin hatten auch seine Eltern ein Haus im Ort. Seid Ihr auch so überrascht, von batteriebetriebenen Fahrradlampen zu lesen? Da dachte man immer, seinerzeit hätte es nur den Dynamo gegeben. Wo das doch bis heute der einzige legale Fahrradlampenantrieb ist … Sehr romantisch (und natürlich unfassbar anregend!) stelle ich mir gegenseitiges Vorlesen von Goethes Werken vor. Hach! Ich sehe sie förmlich unter einer Linde weilen, versonnen flechten ihre Hände einen Blumenkranz, während sein Blick es nie lang auf dem Geschriebenen aushält, sondern immer wieder auf ihre von der Sonne gebräunten Schultern fällt.

Und nein, ich weiß nicht, was Rudu in Eastbourne vorhat und was für Richard von großem Wert sein könnte. Leni war ja auch mal in Eastbourne, allerdings bei einer Peggy Irgendwas. Die Adresse hatte sie noch in den 90ern parat, als mein Bruder und ich uns nach Eastbourne aufmachten. Wir haben sie nicht besucht.