Neues aus der Klinik

Am Dienstag war die Operation. Jetzt ist Donnerstag, kurz vor 7 Uhr. Endlich Zeit, den Bericht nachzuliefern.

Dienstag

Statt um 9:15 Uhr kommen wir schon mindestens eine halbe Stunde früher im Krankenhaus an. Der Verkehr war einfach nicht zäh genug. Obwohl wir Mustafa am Montag noch nichts von der OP erzählt hatten, war er an dem Tag nervöser als sonst. Als wir ihn am Dienstag wecken und er die Ansage bekommt, nichts essen und trinken zu dürfen, ist ihm sofort klar, was ihm blüht.

Vorher

Vorher

Er ist also angespannt, aber gefasst, als wir im Krankenhaus ankommen. Schwester Dana kümmert sich um uns. Wir spielen mit den aufgeblasenen und bemalten Gummihandschuhen, malen Tüten an, suchen Flugzeuge in Büchern und werfen mit einem Gummihandschuhknäuel nach aufgestapelten Pappbechern. Mustafa hat schon sein riesiges OP-Hemd an und den Beruhigungssaft intus, allerdings merkt man ihm das keineswegs an. Im Gegensatz zu Freitag, als er irgendwann umkippte, ist er auch motorisch noch voll funktionsfähig. Erst um 11:15 kommen die Pfleger das Kind holen. Mustafas Gesichtszüge frieren ein, die Augen werden groß.

Bis zur Schleuse darf ich mitkommen und muss dann mit ansehen, wie dieses unglaublich tapfere Kind weggeschoben wird.

Die OP soll etwa zwei Stunden dauern, ich gehe in die Cafeteria – nachdem die Stationsärztin mir noch persönlich den Weg zur Intensivstation gezeigt hat. Das Krankenhaus ist zwar klein, Leute wie ich verlaufen sich da aber trotzdem sehr leicht.

In der Cafete (sie hieß das an der Uni Tübingen, ich benutze das Wort nie, denke es aber immer) habe ich kurz Angst, dass es keine Cola gibt. Ausschließlich gesunder Kram im Krankenhaus? Ist das realistisch? Nein. Na, da ist sie ja.

Ich mache es mir auf einem mintgrünen Stuhl bequem und lege mein Sudoku-Heft vor mich hin. Viel mehr passiert erst einmal nicht. Ich schaffe gerade mal zwei Sudokus in zwei Stunden, den Negativrekord werde ich so schnell nicht brechen können. Bin halt etwas abgelenkt. Haben Krankenhausmitarbeiter früher nicht immer Latschen getragen? Hier tragen sie alle klobige Turnschuhe. Sehen die Stuhllehnen nicht aus wie Backenzähne mit extremem Zahnhalskaries? Hat die Bild selbst recherchiert, dass die Frauen neuerdings finden, Sex habe etwas Himmlisches? Oder waren das amerikanische Wissenschaftler? Kann man vor Nervosität selbst einen Herzfehler bekommen?

Der einzige Lichtblick ist der latzbehoste, grauschöpfige Hausmeister, der mir jedesmal zuzwinkert, wenn er vorbeikommt.

Nach 2,5 Stunden endlich der erlösende Anruf von Prof. Rieß: OP gut verlaufen.

Für meine Zwecke ausreichend: Grün in Schnelsen

Für meine Zwecke ausreichend: Grün in Schnelsen

Dass es noch weitere vier Stunden dauern wird, bis ich zu Mustafa kann, ist mir nicht klar, irgendwann erfahre ich es doch. Ich richte mich auf dem einzigen Fleckchen Grün in der Nähe (direkt am Bahnhof) häuslich ein und starre in den Himmel.

Himmel über Schnelsen

Himmel über Schnelsen

Um kurz vor 6 kommt der erlösende Anruf. Mustafa ist wach. Ich bin darauf vorbereitet, ein an viele Schläuche angeschlossenes Kind vorzufinden. Mit Mustafa im Raum liegt Hadi, der direkt vor ihm operiert wurde. Es werden immer zwei Kinder an einem Tag operiert, damit sie nicht so allein sind.

Ich bin also vorbereitet.  Und da liegt er nun. Das sind aber viele Schläuche. Und Kabel. Jetzt bloß nicht weinen, es ist doch alles gut. Ich bin froh, dass er die Augen zu hat, schaffe es irgendwie, meine großen Augen runterzuschlucken (so fühlt es sich an) und trete an sein Bett. Er ist noch benommen, macht ab und zu die Augen auf, merkt aber, dass ich da bin. „Banane“ möchte er, Bananensaft, aber es ist nur Wasser in kleinen Schlucken erlaubt. „Aua“ sagt er auch, ja, es sieht alles ziemlich nach aua aus. Die Schwester ist erstaunt, dass er schon gleich Deutsch spricht, obwohl er noch halb im Delirium ist.

14 Schläuche

14 Schläuche

Ich bleibe zwei Stunden bei Mustafa und zähle immer wieder die Schläuche. 14. Vielleicht auch ein paar mehr oder weniger, es ist ein ziemliches Wirrwarr und bei der Menge ist es auch egal, wie viele es nun genau sind. Die diensthabende Schwester Ann-Kathrin ist diejenige, die mit in Afghanistan war, um die Kinder abzuholen. Sie erzählt mir von ihren Eindrücken. Der Anästhesist kommt vorbei, auch er überlegt, ob seine Familie nicht mal ein Gastkind aufnehmen sollte und fragt nach meinen Erfahrungen.

Um 20 Uhr fahre ich zu meinen Eltern. Sie wohnen näher am Krankenhaus, deshalb schlafe ich jetzt bei ihnen. Gegen 22 Uhr kommt noch eine SMS aus dem Hause Rieß, Mustafa würde friedlich schlafen.

Mittwoch

8 Uhr: Ich besorge Bananensaft und begebe mich zur Intensivstation. Einige Schläuche sind verschwunden, Mustafa ist nicht mehr fixiert. Er ist erschöpft, macht aber einen recht fitten Eindruck. Er trinkt Wasser in kleinen Schlucken, viel auf einmal ist noch nicht erlaubt, Bananensaft auch nicht. Joghurt geht, Pudding auch.

Ich hole die mitgebrachten Bücher von der Station. Schwester Dana lässt Mustafa Grüße ausrichten. Mustafa und ich gucken immer mal wieder ein Wimmelbuch oder den Grüffelo an, dann schläft er ein.

Der Anästhesist kommt wieder vorbei und sagt, ihn hätte das von mir Erzählte gestern noch sehr beschäftigt. Was ich wohl gesagt habe?

Ich unterhalte mich mit Pfleger Volker, der auch schon ein oder mehrere Gastkinder aufgenommen hatte. Er erklärt mir auch alle Schäuche und Kabel.

Mali, die Gastmutter von Hadi, ist selbst Afghanin. Hadi ist ihr sechstes Gastkind. Sie fragt mich, ob wir wieder eins nehmen würden. Ich sage spontan ja, obwohl ich darüber ja eigentlich erst am Ende von Mustafas Aufenthalt nachdenken wollte. Sie sagt: „Ja, das werdet ihr. Es ist wie eine Sucht.“ Das ist es wohl wirklich. Kein schlechtes Hobby eigentlich.

Mali erzählt mir von Afghanistan. Sie hat das Land 1980 verlassen, um sich in Deutschland am Herzen operieren zu lassen. Dafür mussten ihre Eltern ihr Haus verkaufen. Das ist alles so furchtbar.

Noch etwas ist furchtbar und ich bin froh, dass ich es erst jetzt weiß: Mustafas Herzfehler war noch schlimmer als gedacht. Irgendwann in den nächsten Monaten wäre er an einem Infarkt gestorben. Ein weiteres  Gastmädchen, das nur zufällig mitgekommen ist, weil andere Eltern ihre Tochter doch nicht mitschicken wollten, steht herzbedingt kurz vor dem Leberversagen. Sie wird jetzt gerade operiert. Letzte Rettung.

Mir ist das gerade alles ein bisschen viel. Es ist so schrecklich und so schön und ich frage mich, warum das alles sein muss und sich die Leute ihr Leben gegenseitig so schwer machen müssen.

Donnerstag

Heute kommen die Drainagen raus, angeblich geht es den Kindern dann sofort viel besser. Heute kommen die beiden auf die normale Station, dort werde ich dann wohl auch übernachten.

Ich muss los.

5 Kommentare
  1. Simone sagte:

    Alles, alles Gute für euch alle. Für den kleinen Kerl aber ganz besonders. Hoffentlich darf er heute endlich Bananensaft trinken.

  2. Katja sagte:

    Jetzt sitze ich hier und heule. Dabei ist es doch eigentlich toll, Mustafas Herz ist repariert, er hat die OP gut überstanden, jetzt kann alles gut werden. Ich wünsche ihm weiterhin gute Besserung, und euch allen zusammen viel Freude beim Gesundwerden!

  3. Annette sagte:

    Prof. Rieß ist der beste seines Fachs. Und ein toller Arzt. Und ein wunderbarer Mensch. Grüß ihn von mir. Ich habe schon mehrfach mit ihm zusammengearbeitet und ihm im OP über die Schulter geschaut. Ein begnadeter Herzchirurg.

  4. Britta sagte:

    Puh… auch hier kullern die Tränen…
    Ich kann´s nicht besser sagen als du: alles so schrecklich schön.
    Mustafa ist wirklich ein tapferes Kerlchen und ich drücke ihm sehr die Daumen, dass die Schläuche ganz bald weniger werden. Und Bananensaft erlaubt sein wird!

    Es ist schön, dass er Dich an seiner Seite wissen kann. Und dass Ärzte, Schwestern und Pfleger die Umsorgung dieser Kinder ganz offenbar als Berufung – und nicht nur als Beruf – ansehen.

    Schöne Grüße,
    Britta

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