20.08.1946: Meinen Wagen habe ich längst verzehrt. (Rudu)

Ein ausführlicher Brief von Rudu, der in Guatemala vom Gemüseanbau (und dem Verzehr von Autos) lebt.

[handschriftlich von Leni: bea[ntwortet] im Okt. 46]


Guatemala, 20. August 1946

Liebe Leni, lieber Friedrich,

kürzlich erreichten mich Deine Zeilen vom 23.6., lieber Friedrich, und Du glaubst nicht wie sehnlich wir darauf gewartet hatten, Eure Erlebnisse im Zusammenhang zu hören. Bis dahin waren es immer nur Bruchstücke, die uns hier in Guatemala erreicht hatten, die sich zum Teil widersprachen. Man möchte noch so unendlich viel fragen! Trotz aller Berichte, die von drüben jetzt eintreffen, ein Bild von Eurem Leben kann man sich doch nicht machen.

Unser sehnlicher Wunsch ist, Euch irgendwie zu helfen, soweit es in unseren Kräften steht. Wir haben Pakete aus der Schweiz in Auftrag gegeben, es heisst jedoch, dass nur ein ganz geringer Teil dieser Pakete ihren Bestimmungsort erreichen. Als neuestes ist uns empfohlen: Cooperative for American Remittances to Europe, abgekürzt CARE, durch die man 49 lbs. Pakete enthaltend 30 lbs. Esswaren, an Euch schicken kann. (40.000 calories). Per Flugpost geht morgen der Auftrag nach New-York, Euch und Maria B. je eins von diesen Paketen auszuhändigen. Ich hoffe von Herzen, dass sie Euch gut und schnell erreichen und bitte um umgehende Bestätigung nach Erhalt. Ich will mich mit Hertha noch in Verbindung setzen, damit das Absenden von Paketen in geregelter Weise vor sich geht.

Ehe ich auf Deine Zeilen eingehe, möchte ich Dir kurz von hier einiges berichten. Gemessen an den Schwierigkeiten, die Ihr zu überwinden habt, sind wir hier natürlich in Abrahams Schoss. Jedoch alles ist relativ und wenn ich Dir erzähle, dass ich seit langem nicht mehr weiss, was ruhiger Schlaf ist, so wirst Du vielleicht lächeln. Denn trotz vorzüglichen Gewissens fehlt dieser ganz, verscheucht durch die Sorgen, was die nächsten Ereignisse bringen. Erinnerst Du Dr. Edgar W.‘s Besuch in Mecklenburg im Jahre 1938? So wie er damals fühlen wir uns heute mit genau derselben Perspektive: dies Auf und Ab zwischen Hoffnung und Verzweiflung dauert seit 41. Man hat das Gefühl, momentan dem Endspurt beizuwohnen und es ist wenig Hoffnung auf ein gutes Ende. Auf dem Eckchen neben Lisi B. können wir uns alle zusammenfinden und beraten, soweit noch etwas zu beraten ist. Unsere Mittel sind sehr beschränkt und die Teuerung ist beträchtlich. Ich gebe z. B. für Milch über $ 20.- im Monat aus. Bei Achim und Hertha soll das noch schlimmer sein, nur dass ich glaube, dass er mit sehr viel grösseren Reserven anfing, denn er hat noch seinen Wagen, den ich schon vor Jahren verkaufte und längst verzehrte.

Gesehen habe ich Achim nicht seit der Taufe meines Jungen Okt. 41 und korrespondiert haben wir höchstens alle halbe Jahre mal, wenn sich zufällig mal eine Gelegenheit bot. Auch jetzt noch höre ich von den Vorgängen dort meistens nur durch Hörensagen, genaues weiss ich nicht. Wenn Du übrigens Gelegenheit haben solltest mit dem Bruder von Carl-Ludwig, nämlich Johannes, zu sprechen, so wird der Dir übrigens sicher noch manches von hier erzählen können.

Meiner Familie geht es gut. Bea ist schon ein grosses Mädchen, die sehr gut in der Schule voran kommt und alles spielend erledigt. Sie wird, denke ich mir stets sehr ihren eigenen Weg gehen und alles unangenehme wie damals auf dem Gut mit den Worten „nein heute abend“ von sich weisen. Der Junge, den wir jetzt englisch ausgesprochen Michael nennen (in der englisch geleiteten Schule nannte man ihn so) lernt die Anfangsgründe im Schreiben und Lesen und ist im allgemeinen sehr viel mehr anlehnungsbedürftig als seine Schwester und damit der Verzug seiner Eltern. „Consentido“ (Verwöhnter) sagt die Bea sehr oft verächtlich, da die beiden unter sich meistens spanisch sprechen. Michael beendet jeden abend sein Gebet mit: „und schenk mir bald ein kleines Baby“, einen Wunsch von dessen Erfüllung wir den lieben Gotte gebeten haben einstweilen abzusehen ehe er nicht weiss, wo er uns wieder einsetzen will.

Gemüsebau ist ganz erfreulich, ich hoffe jedoch, es wird nicht zu lange noch meine einzige vernünftige Beschäftigung bleiben. Auf einem Nachbargrundstück wohnt ein alter Herr aus Güstrow, Herr B., der viel bebaubares unbenutztes Land hatte. Nach meiner Krankheit fing ich an das umzugraben und jetzt ist jedes Eckchen bepflanzt. Wir im Hause essen fast ausschliesslich dort gebautes Gemüse und das übrige wird verkauft, die Einnahmen gehen an Herrn B., der über Geldmittel kaum verfügt. Er ist 74 Jahre und hatte vor einiger Zeit von seinem Enkel einen Bericht über den Einzug der Russen in Güstrow. Sein Schwiegersohn, Oberst, ist eine Art Komissar für den Güstrower Bezirk.

Seit Monaten will ich Achim besuchen, freundlichst eingeladen von Hertha, die mir die Reise aus den Verkaufserlösen ihrer Ölbilder schenken will, doch immer wieder muss ich es aufgeben und fürs erste verschieben.

Gestern kam ein Brief von Hertha mit einer Copie des Briefes von Albrecht vom 21. Febr., so verspätet ist der eingetroffen! Er schreibt: „ich plane im Herbst rüber zu kommen nach Mex, Gtla oder USA“, „rechne auf Eure Hilfe“, ebenso gut könnte er schreiben, er plane eine Reise zum Mond.

Du schreibst in Deinem Brief, Friedrich, nichts über Deine Mutter, wo sie wohnt etc., ich hoffe es geht ihr wie auch Deinen Brüdern gut. Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr mir über das Ergehen folgender Personen, soweit möglich, berichtet: [es folgt eine auführliche Personenliste] Von Klaus U. hörte ich aus Chicago kürzlich, wir mussten den Briefverkehr während des Krieges abbrechen und haben erst jetzt wieder voneinander gehört.

Achim und Hertha werden Euch sicher berichten. Ingrid und ich sind in Gedanken so oft bei Euch und Euren Kindern, nehmen innigen Anteil an Eurem Kummer und Euren Erlebnissen. Wir hoffen sehr, dass sich [Brief bricht ab]


Was es mit Edgar W. und seinem Schicksal auf sich hat, weiß ich leider nicht. Um Euch die Weihnachtsstimmung nicht zu versauern, werde ich vor Weihnachten noch ein paar schöne Briefe einstellen. Freut Euch drauf!