02.05.1936: … ich habe gestern meinen Beruf aufgegeben. (Leni)

Der erste überlieferte Antwortbrief von Leni. Es handelt sich um einen Durchschlag auf Luftpostpapier, die Zeilen stehen so dicht beieinander, wie es nur geht. Insgesamt umfasst dieser Brief fünf Seiten. Einer der informativsten Briefe überhaupt, beschreibt er doch neben Papas Leiden und Tod auch Lenis Beruf. Eigentlich sind es zwei Briefe, sie wurden aber zusammen abgeschickt, also zählen sie als einer.


Hamburg, R’weg XX

den XX. 2. Mai 36 [Jahreszahl handschriftlich, Rest getippt]

Mein lieber Rudu und liebe Ingrid!

Heute ist mein erster freier Tag, denn ich habe gestern meinen Beruf aufgegeben. Rudu, ich will versuchen Dir ein kleines Bild von den schrecklich traurigen Wochen und Monaten und von unserem einzig guten Papi zu geben. Wie waren wir schon voller Hoffnung, als Papa im März einige Tage in N. war, dass es nun nur noch einiger Wochen bedürfe zur vollkommenen Erholung. Rudu, es ist so furchtbar schwer über alles zu schreiben, es wird mir garnicht gelingen denn alle Worte klingen so leer, man kann diese unendliche Geduld, mit der Papa dies monatelange Leiden getragen hat, einfach nicht wiedergeben. Nie ist ein Wort der Ungeduld über seine Lippen gekommen, dass er vielleicht zu langsam besser würde, oder nicht mehr liegen könnte oder auch nur in irgend einer Weise unzufrieden war, jeden Tag war er gleichmässig gut und lieb und voller Freude wenn man kam. Du glaubst nicht mit welchen Plänen und Gedanken er sich noch bis zum Schluss beschäftigt hat, wie er dauernd voller Einfälle war, die er noch ausführen wollte, nur dass gab ihm auch die Kraft seine Krankheit so fabelhaft zu tragen wie er es getan hat. Dauernd steht einem das vor Augen, diese ungeheure Willenskraft, wie er nachdachte es jedem von uns so schön und sorgenlos wie möglich zu machen.

Am 4. März wurde er im Krankenhaus entlassen und fuhr mit Mama nach N. Ich habe die beiden Sonntage, die ich während der Zeit dort sein konnte noch deutlich vor Augen und der einzige Trost der einem heute bleibt ist der, dass wenn Papa die Augen nicht geschlossen hätte für ihn das Leben eine Qual geworden wäre, er hätte nur seiner Gesundheit leben müssen dauernd wäre er in seiner Freiheit seinen Wünschen gehämmt gewesen, das Leben würde für ihn der so tätig und unternehmend war eine einzige Qual geworden. Das ist das einzige womit man sich heute etwas trösten kann, dass es für ihn zum Schluss eine Erlösung. Garnicht, dass er vielleicht so unter Schmerzen gelitten hat, jeden falls war das glaube ich nur seltener, aber die Diät die er dauernd hätte halten müssen und er bekam ja nichts anderes zu hören, als dass er dieses und jenes nicht dürfe und da er keine Rücksicht, nie in seinem Leben auf sich genommen hat, so wäre dass nicht auszudenken gewesen. Ich sehe noch die Wagentouren vor mir, wie er in Wärmflaschen und Decken eingehüllt wurde und innerlich sehr ungehalten darüber war, wenn er es nach Außen auch nur wenig zeigte und Rudu, dass hätte nie anders werden können, denn dazu war die lange Krankheit viel zu schwer und hatte den Körper schon zu sehr verbraucht. Ich muss an die Tage in Schweden denken, wo es ja überhaupt anfing[,] unmenschlich ging er gegen sich an, er wollte eben nicht krank sein und kannte keine Rücksicht auf seine Gesundheit. Durch Achims Aufenthalt hast Du den weiteren Fortgang hier gehört, wenn ich noch denke, wie es all die langen Wochen damals ernst stand immer ein auf und ab, wenn man eben etwas Hoffnung hatte, wie schnell wurde sie wieder gedämmt. Wie war er unter Bergs dauernder Fürsorge schon besser geworden[,] selbst dieses böse Herzattacke hatte er überwunden, wenngleich es auch nie wieder so kräftig geworden wäre.

Am 17. März kamen die Eltern von N. zurück, da wir alle meinten, es wäre jetzt gut[,] Papa käme nach Mergentheim, die Kur dort würde ihm helfen. Sie wohnten im Atlantik und ich besuchte sie noch länger nach I.s Hochzeit. Papa las Zeitung und machte nicht den schlechtesten Eindruck, er freute sich auf Mergentheim[,] weil er eben auch meinte, das sei jetzt das Richtigste für ihn. Die Reise am nächste[n] Tag per Flugzeug muss für ihn furchtbar gewesen sein, sein Körper war für eine derartige Tour zu krank, Mama und die Schwester waren mit ihm und wird Mama Dir davon berichtet haben. In Mergentheim hat er nur zu Bett gelegen, die 12 Tage müssen schrecklich gewesen sein. Berg fuhr hin und hat ihn sofort wieder mitgenommen. Papa war am 1. April, als er hier her kam erschreckend elend, es war so erschütternd Rudu, ihn wieder in seinem Bett so matt liegen zu sehen. Das Schöne war nur das er selbst so glücklich war wieder unter Bergs Schutz zu sein. Er war glücklich und zufrieden wenn die Tür sich auftat und Berg zu ihm kam[,] da er solch grenzenloses Vertrauen zu ihm hatte. Der Mann hat es auch voll verdient, denn was in seinen Kräften stand hat er getan. Es wäre noch so viel zu diesem allen zu sagen aber Rudu ich will es Dir später mal mündlich erzählen, denn diese Wochen werde ich bis an mein Lebensende XX nie vergessen. Ich weiss nicht was Mama Dir bez. Achim über die letzten Tage geschrieben hat, ich will es so gut ich kann ist es heute überhaupt das erste Mal dass ich darüber schreibe.

Am 2. April fuhr Mama auf anraten von Berg kurz nach N. Als ich Papa abends um 9Uhr nach meinem Geschäft besuchte, ich konnte immer erst so spät, da ich nicht früher fertig war, fühlte er sich garnicht so schlecht und war so froh und dankbar dass man kam, wie er es überhaupt immer in seiner rührenden Art war. Hatte für alles Interesse was ich ihm erzählte XXX von meiner Tätigkeit, fragte nach so vielen Dingen und war mit einem Wort wie immer unendlich gut.

Von einem Eingriff, den man mit örtlicher Betäubung machen wollte war schon die Rede, doch wollte Berg es noch aufschieben um ihn noch kräftiger zu haben, und hatte somit auch an Mama telefoniert sie solle noch einen Tag in N. bleiben. – Den selben Abend anschliessend von Papa  aus ging ich noch zu Berg mit einem Vorschlag von Ingrids Mutter eine Magneotopathin zu versuchen, die gute Erfolge auf diesem Gebiet gehabt haben soll. Berg verhielt sich absolut ablehnend, aber jedenfalls hatte man es versucht, und er versicherte mir, dass sie den Eingriff noch nichtmachen würden, Papa solle erst kräftiger werden. Nächsten Abend, am 3. kam ich wieder nach dem Geschäft zu Papa und es war das erste Mal, dass er mich sofort wieder hinausschickte, er wollte mich garnicht sehen, so furchtbar schlecht fühlte er sich. Berg sagte mir, dass er kaum Fieber habe und war eigentlich nicht so sehr besorgt. Dann muss Papa eine furchtbare Nacht gehabt haben, die Aerzte waren dauernd bei ihm und Papas eigner Wunsch war es, dass der Eingriff sofort am nächsten Tag gemacht wurde, weil er sich davon Erleichterung versprach. Am 4. früh wurde ich im Geschäft benachrichtigt, und als ich ins Krankenhaus kam, war man schon dabei, die Aerzte machten sehr besorgte Gesichter und man sah ihnen eigentlich die Hoffnungslosigkeit schon an, die Entzündung innerlich hatte schon zu weit um sich gegriffen. Ich sah Papa kurz[,] er war matt aber froh, dass es gemacht war und sagte dass er glaube es würde nun besser, innerlich war er wohl kaum davon überzeugt. Mama hatten wir sofort telefoniert, sie kam so schnelle es ging, war aber ahnungslos, dass es schon gemacht war. Ich schickte sie zu Berg. Wir schliefen die Nacht im Krankenhaus. Am Sonntag war Papa nicht gerade schlecht[,] er freute sich immer wenn jemand bei ihm war, er schlief fast den ganzen Tag. Er meinte ich solle ins Geschäft gehen, ich sagte ihm, dass Sonntag sei, da war er beruhigt und sagte, dann solle ich nach R. gehen und alle grüssen. Er dachte immer an andere. Montag früh, als ich ihm Primeln mitbrachte, die ich mit Friedrich in Büchsenschinken gepflückt hatte, freute er sich sehr, und erzählte uns noch dass er 1898 dort Tannen gepflanzt habe. Ich musste dann leider ins Geschäft und so waren dies eigentlich die letzten Worte[,] die er mir sagte.

Mama war natürlich den ganzen Tag bei ihm, wie sie eigentlich während Papas Krankheit ihn nur während der Mahlzeit verlassen hat. Und Rudu Du glaubst nicht welch schönes Gefühl dass heute ist, denn Du glaubst nicht welche Gedanken man sich hinterher macht, ob man nun auch wirklich alles getan hat was in unseren Kräften lag. Und ich glaube dass man das in diesem Fall wirklich sagen kann.

Als wir Montag abend zu Papa kamen empfingen uns die Schwestern wenig hoffnungsfreudig. Als wir bei ihm waren war er sehr aufgeregt und unruhig und bat uns ihm zu helfen, es hatte eine innerliche Unruhe eingesetzt. Auf unseren Wunsch gab ihm Berg eine Spritze zur Beruhigung, ja Rudu und danach hat Papa kein Bewusstsein mehr gehabt. Es war die einzige Möglichkeit ihm eine Erleichterung zu schaffen.

Wir schliefen wieder dort und während der Nacht und des nächsten Tages hatte er manchmal eine Art Schluckaufanfälle doch zum Glück merkte er nichts davon. Den ganzen nächsten Tag waren wir, Rudu wie habe ich gehofft man könnte ihn nochmal sprechen oder er würde einen sehen aber es musste ja so sein, sonst wäre es für ihn furchtbar gewesen. Dienstag abend um 10 schlief Papi ein, wir waren bei ihm, Rudu wie soll ich es Dir beschreiben es war so leer plötzlich alles.

Ich möchte Dir noch so vieles sagen, aber Rudu es gibt so vieles was man nur empfinden kann, man kann vielleicht darüber sprechen aber nicht schreiben. Meine Gedanken sind so viel bei Euch wieviel Schönes welche Bevorzugung und auch kleine Befriedigung war es für uns, dass wir in all den letzten Monaten so viel bei ihm sein konnten und von ihm gehabt haben, und wie unaussprechlich hart für Euch Geschwister für Dich besonders ihn nie wieder zu sehen. Der einzige Trost, der einem heute bleibt ist alles so zu machen und weiter zu führen soweit es in unseren Kräften steht, wie Papa es wünschen würde oder gewollt hätte.

Die Feier im Krematorium war am 9. abends um 7 Uhr, es war besonders schön und feierlich. B. [der Pastor], der es nach einigen Schwierigkeiten, da er schlecht abkömmlich war hat ganz ausgezeichnet gesprochen, später werdet Ihr die Abschrift erhalten. Wenige Freunde und Bekannte von Papa waren dort, es war sein Wunsch, dass die Beisetzung in aller Stille statt fand. St‘s, N‘s, Deine beiden Freunde, das Kontor und wenige andere. Die 3 Wochen, die seitdem verstrichen sind mit den vielen neuen Fragen dauernden fremden Dingen, die auf uns einstürmen, besonders auf Mama machen es immer unwahrscheinlicher, dass unser Papi nicht mehr [ist], man kann es einfach noch nicht fassen und glauben. Der einzige Trost wird immer nur für uns bleiben, dass ein Weiterleben für ihn wahrscheinlich keine Freude mehr gewesen wäre, denn an ein Hinübergehen wäre nichtmehr zu denken gewesen.

Unsere gute Mami ist sehr tapfer, mit welcher Liebe war sie die ganzen Monate bei ihm und um ihn herum, dass macht ihr so leicht keiner nach. Und jetzt? Auf Schritt und Tritt wo sie ist und was sie tut, nur wird sie an ihn erinnert. Ich würde gern mit ihr eine kleine Tour machen, damit sie etwas auf andere Gedanken kommt, ferner hat sie eine Ausspannung sehr nötig nach all den Monaten. Ich fürchte nur dass ich es nicht erreichen werde, denn gleich kamen so viele akute Fragen die keinen Aufschub dulden, und jetzt geht es dauernd so weiter. Sie ist mal hier, mal in N. Gestern ist sie wieder fort gefahren von hier. Maria mit ihr. Ferner mag sie von N. jetzt nicht fortgehen, den durch den dauernden Aufenthalt hier, ist dort vieles im Haus zu kurz gekommen, es sät ja auch nicht so ganz leicht für sie sich zu entschliessen. Nur habe ich aus dem Grund eigentlich meine Tätigkeit in der Bibliothek aufgegeben.

Ich will jetzt erstmal schliessen Rudu, denn meine Ausdrucksweise wird immer schlechter, ärgerlicher Weise habe ich de[Textteile fehlen]

den 5. Mai

Lieber Rudu,

Da im Moment doch kein Schiffverkehr war, habe ich etwas ausgesetzt. Durch die enorm lange Pause, die ich überhaupt nicht an Euch geschrieben habe, fällt es mir sehr schwer den Anfang zu finden, denn es gibt gar keinen, weil alles schon so furchtbar zurück liegt. Ihr habt nicht mal meine herzlichsten Glückwünsche zur Geburt von Beate bekommen. Wie oft habe ich mir vorgenommen Euch endlich mal zu schreiben, wenn noch dazu wenn ich die netten Nachrichten an Mama las, ich habe Euer Prachtexemplar brieflich und bildlich dauernd verfolgt und muss es wirklich besonders reizend sein. Gerade nach den letzten Bildern, die ich vor wenigen Tagen von Ingrids Mutter zur Ansicht bekam, macht es einen mächtig gesunden und staziösen Eindruck. Ich kann mir ja so denken wie unendlich glücklich Ihr beiden seit. Es würde mir natürlich einen diebischen Spass machen Euch dort mal hausen zu sehen, wer legt das Kind zum Beispiel trocken, als Vater muss man diese Dinge heutzutage ja alle lernen. Von morgens bis abends wird es selbst redend verzogen, von Erziehung natürlich keine Rede. Aergert Euch nicht, dass ich so boshaftig rede, es klingt nur so, ferner weiss ich es nicht besser da ich keine Erfahrung darin habe und könnte mir denken, dass ich es so machen würde. Ich weiss ja nicht mal wie man die ganz kleinen Kinder zuerst anfassen muss, denn unter Herthas Fuchtel habe ich das doch nicht gelernt.

Alice ist seit einiger Zeit in Schweden und ich hause hier also allein, Mama kommt zwar des öfteren hier her, mit Maria. Wir waren ganz oft bei B. Aus seinem Brief vom 4. an Euch wirst Du dass alles ersehen. Vieles sieht vielleicht im ersten Moment schwieriger aus als es ist, doch möchten wir hier ja auf keinen Fall etwas falsches unternehmen. Wir sind oft so furchtbar unbewandert und sich Rat zu holen bei Geschäftsfreunden von Papa ist nicht immer angebracht da sie selbst zu sehr interessiert sind. Wir hoffen sehr, dass Achim bald kommt, weil es für uns ein Unding ist die vielen Fragen brieflich zu erledigen. Hinzu kommt, dass Fräulein R. gekündigt hat zum 1. Juli. Ich will versuchen mich in N. etwas einzuarbeiten, Buchführung ectr., denn im Augenblick sind wir ja nur von den Angestellten abhängig, es fehlt hier wie in N. ja jegliche Aufsicht. Das soll nicht heissen, dass man ihnen mistraut, es ist einfach dringend nötig dass wir wissen was um uns geschieht. In N. ist eine Herabschraubung des Verbrauches sehr nötig, denn in den letzten Monaten war er sehr hoch, ich meine damit nicht ausschliesslich N. sondern auch Papas Krankheit, wie unser Aufenthalt hier in Hbg.—

Eigentlich wollte ich heute einen Besuch bei Wera S. machen, denn Tochter W. hat sich mit Kurt N. verlobt. Näheres weiss ich garnicht, Ihr vielleicht eher, da Ihr soviel mit ihm zusammen wart[.] Schröders haben sich während Papas Krankheit dauernd nach ihm erkundigt, und sich in jeder Weise sehr liebenswürdig gezeigt.

Wie oft, wenn wir abends aus de Krankenhaus kamen, ging in einer Tour das Telefon, alles Leute, die sich nach Papa erkundigten.

Albrecht ist nach wie vor in Teutendorf und wird seine Lehre nächstes Jahr beendet haben. Was soll ich über ihn schreiben, er ist ein lieber Kerl, aber es ist so schade, dass wenn ihm nicht alle Wünsche restlos erfüllt werden, ihm die Einsicht oft fehlt, dass zu begreifen.

Maria mit den Kindern bleibt diesen Sommer in N., denn Bio kommt vorläufig noch nicht zur Schule. Oma bleibt auch dort. Das Verhält- zwischen Mama und M. ist gut, Mama ist natürlich rührend und M. gibt sich in ihrer Art Mühe.

[Beginn Seite 5!] Bei jedem Bogen stelle ich fest, dass mir Briefe schreiben garnicht liegt, und das was ich sagen möchte dauernd misglückt, also wundert Euch nicht, und seht über die unklaren Dinge hinweg. Doch möchte ich Dich bitten, die ersten 3 Seiten Hertha zu schicken, denn ich kann ihr dasselbe nicht nochmal schreiben. Seitdem sie wieder drüben ist hat sie ausser einem mitgegebenen Brief mit Achim noch nichts gehört, sie wird schon dementsprechend böse sein. Habt Ihr eigentlich 2 kleine Bilder von mir zu Weihnachten bekommen, ich gab sie Tante Mia mit, Tierbilder.

Du wirst gehört haben, dass ich seit Ende Dezember in der Leihbibliothek bei Laeisz tätig war. Es hat mir viel Spass gemacht, hauptsächlich hatte ich Bücher an die Kunden zu verleihen, das Schlimme war, dass die Kunden in ihrer Doofheit von einem verlangen, dass man über alle Bücher Beschied weiss, was natürlich bei 90 000 Büchern ein Unding ist, denn mehrere Lebensalter würden da nicht ausreichen. Bei Neuerscheinungen hält man sich durch kurze Inhaltsangaben ganz gut auf dem Laufenden. Viele, viele Schriftsteller habe ich dadurch kennen gelernt, von denen man so im gewöhnlichen Leben kaum etwas hört. Es war die Tätigkeit, die ich mir seit Jahren gewünscht hatte. Ich hätte es sehr gern weiter gemacht, denn es war nicht nur schön dauernd die schönsten und besten Bücher lesen zu können, sondern auch der Umgang mit den Kunden war oft interessant und unheimlich komisch. Bei 1 000 Abonnenten kann man schon einiges erleben. Um 7 Uhr abends sollten wir fertig sein, aber die leiben Leute haben oft eine enorme Ausdauer 2 Minuten vor 7 zu erschienen und dann lange und gemütlich zu bleiben, sodass wir dann glücklich sowas um 8 im Haus waren. Das ist auf die Dauer verbitternd, weil es meisten Menschen sind, die den ganzen Tag nichts zu tun haben und denen dann mal schnell einfällt sich noch mal eben ein Buch zu holen.

Wenn Friedrich und ich zum Herbst noch nicht heiraten können, hätte ich die grösste Lust es wieder weiter zu machen, mein Chef war auch sehr dafür. Denn schliesslich gebraucht man schon gute 3 Monate erstmal um sich einzuleben, die Kunden kennen zu lernen, was jeder gern liest, und wie böse einige werden, wenn man ihnen Dinge vorlegt, die sie überhaupt nicht anrühren. Immer wieder war es festzustellen, dass die Menschen, die heute in Deutschland ungern gesehen sind, ungeheuer belesen sind, der Kontrast ist ganz erstaunlich. Meine Mitarbeiterinnen waren alle nett, ich gehe jeden Tag hin um mit ihnen zu klönen und möchte eben so gern hinter der Tonbank stehen, als davor. Alles in allem ein schöner Beruf, wenn auch nicht gut bezahlt. Weisst Du dass Erika S. dort auch kurz gewesen ist? Sie soll jetzt verheiratet sein, aber niemand kann mir sagen mit wem, es ist so heimlich vor sich gegangen.

Rudu, ich muss jetzt schliessen, mit dem Versprechen, dass ich bald wieder schreiben werde, und nicht wieder so lange warten werde. Denn der Anfang ist ja nun gemacht. Nachher kann ich Dir von N. erzählen und viele andere Dinge, die jetzt fort bleiben müssen. – Klaus und Babs haben ganz fabelhaft zu Papas Ableben geschrieben. – Ich habe Euch auch noch für 2 liebe Briefe zu meinem letzten Geburtstag zu danken, ich schäme mich damit noch heute zu kommen.—Ich wünsche Euch dreien soviel Gutes wie Ihr überhaupt vertragen könnt und denke soviel an Euch. Hoffentlich werden wir uns bald mal sehen können. Bekommt Beate schon Zähne? Bald wird sie ja schon laufen können, ach herje dann beginnen die Sorgen.

Mit Hertha hat im Sommer eine Versöhnung statt gefunden, hoffentlich ist sie nicht inzwischen schon wieder zu nichte, da ich nicht geschrieben habe.

Nächstes Mal mehr, ich gebe Euch dreien sehr liebe Küsse und bin mit 1000 guten Wünschen bei Euch. – Rudu sei ja vorsichtig beim Motorrad fahren, ich kann es mir garnicht von Dir vorstellen, Friedrich hat jetzt zum Glück ein kleines Auto, wo wir beide gerade hinein passen


Interessant finde ich die Verwendung der Vokabel telefonieren (jmd. telefonieren, an jmd. telefonieren). Und interessant ist auch, dass Leni sagt, ihr liege das Briefeschreiben nicht. :) Übrigens hatte Papa wohl eine Lungenentzündung, die er sich von den Färöern mitgebracht hatte.

4 Kommentare
  1. Sabine sagte:

    Interessant: „Immer wieder war es festzustellen, dass die Menschen, die heute in Deutschland ungern gesehen sind, ungeheuer belesen sind, der Kontrast ist ganz erstaunlich.“ Ist das die erste Anspielung auf die Nazizeit? (Ich muss zugeben, dass ich nicht alle Briefe ausführlich gelesen habe.)
    Und das Wort „staziös“ musste ich tatsächlich erst nachschlagen. Ich werde es meinem Wortschatz hinzufügen. „Euer Kind ist wirklich ganz staziös.“ Großartig.

    • Gesa sagte:

      Ja, das ist die erste Anspielung und – soweit ich weiß – auch die einzige. Es ist wirklich erstaunlich, wie man das Geschehen um sich herum dermaßen ausblenden kann. „Staziös“ ist ja auch noch falsch geschrieben – sonderlich häufig gebraucht wurde es also sicher auch damals nicht.

  2. Sabine sagte:

    Hmm, ist ja die Frage, ob sie es wirklich ausgeblendet hat oder ob sie nur nicht gewagt hat, so etwas Briefen anzuvertrauen. Auch hier ist die Bemerkung ja eher verklausuliert, sodass sie einem flüchtigen Zensor möglicherweise durchgegangen wäre. Wobei ich nicht weiß, ab wann man in Deutschland davon ausgehen musste, dass Briefe mitgelesen wurden.
    Das z im staziös habe ich für eine Nebenschreibweise gehalten. Okay, merken: statiös, statiös, statiös.

    • Gesa sagte:

      Das Thema Nazizeit wird in den Briefen nicht angesprochen, egal, in welcher Form. Ich finde das schon bemerkenswert. Klar hatten sie auch persönlichen Kontakt durch Besuche usw., aber es werden eben überhaupt nie irgendwelche Veränderungen in der Gesellschaft erwähnt. Nichts. Vielleicht liegt es daran, dass Leni eine Frau war und somit für politische Diskussionen „ungeeignet“.

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