Bücher im Original – eine halbe Rezension (Sam Millar: True Crime)

Seien wir ehrlich: In meinem Romanregal gibt es mehr deutsche als fremdsprachige Bücher. Das ist ziemlich logisch, denn immerhin bin ich Deutsche und wohne in Deutschland. Knapp sechs Jahre habe ich in anderen Ländern verbracht, das spiegelt sich ziemlich genau in meinem Bücherbestand. Wenn ich es kann, lese ich Romane gern im Original. Weil ich es kann. Ich störe mich nicht an einer guten Übersetzung, aber ich frage mich dann eben manchmal, wie etwas im Original gewesen ist. Stand da Dialekt? Wurde der Ausdruck erklärt?

Isabel Bogdan, die reizende Übersetzerin, hat mal irgendwo gesagt, dass sie Bücher nur noch in deutscher Übersetzung liest, weil sie sonst in Gedanken mitübersetzt. Bei mir liegt das Problem also andersrum. Bei Filmen geht es mir genauso.

Seit ich viel rezensiere, lese ich fast nur noch deutsche Bücher, egal ob von deutschen Autoren oder in Übersetzung. Ich finde das in Ordnung, denn sobald ich ins Ausland fahre, decke ich mich sowieso mit fremdsprachiger Literatur ein. Manchmal denke ich beim Lesen einer Übersetzung, dass ich das Buch gern mal im Original lesen würde. Habe ich es schon getan? Einmal, glaube ich.

Und nun lag dieses Rezensionsexemplar auf meinem Tisch. „True Crime“ von Sam Millar. Ziemlich dick, gut 400 Seiten. Auf Deutsch. (Der englische Titel ist „On the Brinks“.) Eine wahre Geschichte. Sam Millar, Nordire, Mitglied der IRA, jahrelang unter widrigsten Bedingungen in den H-Blocks gefangen (allgemeine Infos dazu gibt es hier), später in New York illegaler Casinobetreiber, Comicladenbesitzer und, äh, ja, dann hat er auch noch die Geldtransportfirma Brink’s überfallen.  Insgesamt also ein in Autorenkreisen eher ungewöhnlicherer Lebenslauf.

Angepriesen wird das Buch als „die unfassbare Geschichte eines der größten Raubüberfälle aller Zeiten“ und das stimmt auch. Weniger der Raubüberfall, der ist erst in der zweiten Hälfte Thema. Aber „unfassbare Geschichte“, ja. Dieser Mann ist so unfassbar konsequent. Keine Rechtfertigungen, keine Angeberei. Es sind die harten Fakten, die ich um die Ohren (bzw. Augen) gehauen bekomme, und die sind härter als der Zellenboden. Die Geschichte ist brutal und ich bin geneigt, mir zu wünschen, dass Sam damals seinen Protest aufgegeben hätte, um sich die Konsequenzen zu ersparen. Aber nein, aufgeben ist nicht. Was absolut richtig ist. Und ich frage mich, wie sehr die Gefängnisproteste in Nordirland damals in den deutschen Medien erwähnt wurden. Die Schlacht von Long Kesh 1974 (da war Sam 19!) und später der Hungerstreik, der 10 Menschen das Leben kostete. Dass Partei für die IRA-Terroristen ergriffen wurde, kann ich mir kaum vorstellen.

Sams Nemesis unter den Wärtern war

Sams Nemesis unter den Wärtern war „Warzenschwein“. Meine Leuchtsau wird dem nicht gerecht, das weiß ich.

Und ich frage mich, wie Menschen aus ihrer Überzeugung so viel Kraft schöpfen können.* Und ob ich das wohl auch könnte. Und dann fällt mir Elie Wiesel ein, der auch im Buch zitiert wird. Es wird unglaublich viel zitiert, an jedem Kapitelanfang stehen mindestens zwei Zitate, was ich sonst nicht schätze, aber in diesem Buch ist alles anders. Nach dem Buchkonsum habe ich noch einmal alle Zitate gelesen. Wie Illustrationen zur Geschichte. Jedenfalls hat Elie Wiesel etwas gesagt, das jetzt gerade zur Befreiung von Auschwitz auch wieder zitiert wurde und das nicht oft genug zitiert werden kann.

Ich habe geschworen, niemals zu schweigen, wann immer und wo immer ein Mensch zu leiden hat oder gedemütigt wird. Wir müssen uns immer für eine Seite entscheiden. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer. Schweigen ist dem Peiniger Zuspruch, niemals dem Gepeinigten.

Zurück zum Buch: Ich mochte die Art, wie Millar sein Privatleben fast komplett ausblendet. Informationen über seine Frau und Kinder gibt es nur, wenn sie fürs Verständnis des Geschehens unumgänglich sind. Sonst könnte man sich eventuell einfach mal zurücklehnen und eine kleine Liebesgeschichte genießen. Aber zurücklehnen ist nicht erwünscht, dieses Buch hat keine Lehne.

Fazit. Unbedingt lesen, wenn man keine schwere Kost scheut und sich wirklich beeindrucken lassen möchte.

Und ich werde etwas tun, das ich noch nie getan habe: Ich besorge mir die Originalversion und lese es noch einmal, und zwar umgehend. Danach folgt die zweite Rezensionshälfte.

 

* Und ich will ihn fragen: „How the hell did you cope??“

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