„Warum haben Eltern keinen Beipackzettel?“ von Sabine und Roland Bösel

Warum haben Bücher keinen Beipackzettel?

Warum haben Bücher keinen Beipackzettel?

– Über Risiken und Nebenwirkungen des emotionalen Erbes fragen Sie Ihre Partnerin oder Ihren Partner –

Meine erste Reaktion (als ich mich nach dem Auspacken endlich dem Inhalt des Buches zuwende, s. u.): Was ist denn das für ein Buch? Ein Kinderratgeber („Wie erziehe ich meine Eltern?“), ein BEziehungsratgeber („Warum funktioniert unsere Ehe nicht?“) oder gar ein ERziehungsratgeber („So vermeiden Sie, dass Ihre Kinder total verkorksen!“)?

Auf dem Cover sind mit einem Pflaster notdürftig verarztete gebrochene Herzen zu sehen.

Also, worum geht es? Um Verhaltensmuster, die wir in der Kindheit (unbewusst) gelernt haben und die uns nun – gerade, wenn wir uns in einer Beziehung befinden – im Weg rumliegen.

Doch dazu komme ich später. Als ich das Buch aus dem Briefumschlag zog, fiel mir zunächst die angenehm matte Oberfläche auf. Dann schlug ich es auf und … oh, dieser Duft! Oooohh! Kennt Ihr das, wenn Druckerzeugnisse je nach Papier ganz unterschiedliche Duftnoten aufweisen? Hier handelt es sich um ein etwas dickeres Papier, das knarzt, wenn man es zwischen den Fingern reibt. Ich fühlte mich umgehend an mein Lesebuch aus der 2. Klasse erinnert, in dem Quiesel eingeführt wurde. In der 1. Klasse hatte ich noch mit Fu gelernt, dann kamen die neuen Bücher – mit eben diesem Geruch.*

Nun wollte ich wissen, ob das sein kann und habe in der Druckerei Theiss nachgefragt. Herr Granig antwortete postwendend: „Das Papier nennt sich bei uns in Österreich ‚HelloFat matt‘ – es ist vergleichbar mit dem früheren ‚Biberist Furioso matt‘, welches durchaus bei Schulbüchern eingesetzt wurde.“ Die Druckfarbe könne zwar auch noch einen eigenen Geruch verursachen, aber ich fühle mich bestätigt. HelloFat matt! Wenn das kein toller Name ist! Weitere Recherche ergab, dass mein neues Lieblingspapier relativ dick ist, ohne dadurch schwerer zu werden. Noch dazu ist es FSC-zertifiziert.

Die erste durch dieses Buch erworbene Erkenntnis war also schon wirklich bereichernd. Gespannt wandte ich mich dem Gedruckten zu. Das Thema des Buches sind Beziehungsprobleme und wie man sie löst. Der Ansatz ist dabei nicht, auf Biegen und Brechen Kompromisse einzugehen und zu versuchen, irgendwie auf einen Nenner zu kommen, sondern der Ursache der Probleme auf die Schliche zu kommen. Jede/r verhält sich manchmal irrational und reagiert in den Augen der anderen merkwürdig. Das Autorenehepaar – zwei erfahrene Paartherapeuten – suchen die Ursachen für das merkwürdige Verhalten in der Kindheit der Person. Der Schlüssel liegt häufig darin, dass das Kind unbewusst die (mitunter ebenso merkwürdige) Reaktionsweise eines Elternteils kopiert, um diesem zu zeigen, dass es zu ihm hält und um positive Resonanz hervorzurufen. Dass das kaum klappen kann, ist klar, ändert aber nichts an diesem offenbar sehr gängigen kindlichen Verhalten.

Anhand zahlreicher Beispiele werden die Verhaltensmuster aufgedröselt, analysiert und aus dem Weg geschafft. Dabei ersetzt das Buch keineswegs die Paartherapie. Das ginge auch gar nicht. Ein zerstrittenes Paar wird niemals den Dingen so auf den Grund gehen können, wie das ein unabhängiger Dritter schafft. Wer jedoch Beziehungsprobleme hat, wird anhand dieses Buches durchaus erkennen können, dass es bei einer Paartherapie nicht darum geht, jemanden (nach Möglichkeit natürlich den anderen bzw. die andere) zu ändern. Es gilt, gewohnte Wege zu verlassen. Dies erreicht man nur, wenn man herausfindet, wie man auf diesen Weg geraten ist. Das heißt jetzt nicht, dass man seinen Eltern munter die Schuld zuschieben und sich entspannt zurücklehnen darf. Um Probleme bekämpfen zu können, muss man sie halt erst einmal kennen. Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Vergebung. Bestehende Vorwürfe halten das Problem am Leben. Erst durch Vergebung können sie sich in Wohlgefallen auflösen.

Wenn das Buch nun aber nicht die Paartherapie ersetzt, ist es dann eine Kommt-zu-unserer-Paartherapie-Werbeveranstaltung? Nein. Doch. Mithilfe des Buches versteht man, dass eine Paartherapie nicht nur der Beziehung helfen kann, sondern auch zu einer tiefgehenden Erkenntnis über einen selbst führt. Vieles scheint banal, selbst auf die Lösung kommen würde ich trotzdem nicht. Die bestechende Logik der beiden Paartherapeuten ist für mich auch keineswegs immer nachvollziehbar. An mancher Stelle hätte es mehr Erklärungsbedarf gegeben. Manche Probleme wurden so verkürzt dargestellt, dass die Lösung nur eine von vielen zu sein scheint, weil mir als Leserin ein paar Puzzleteile fehlen.

Ein weiterer Aspekt neben der Paartherapie ist der Generationen-Workshop, der ebenfalls von dem Autorenpaar angeboten wird. Die vom Kind übernommenen Verhaltensmuster sollen durch ein Gespräch mit den Eltern aufgebrochen werden. Scheint zu funktionieren. Auch hier wieder: Allein ist das kaum zu bewältigen. Es gibt einen Test, mit dessen Hilfe man ausloten kann, ob bestimmte Bereiche in der eigenen Kindheit zu kurz gekommen sind. Das ist zumindest eine Orientierungshilfe.

Überhaupt muss (oder sollte) man sich ständig fragen, ob man sich oder einer anderen Person das Leben in irgendeiner Weise schwer macht. Diesen Ansatz finde ich sehr spannend: Das eigene Verhalten verhindert das Fortkommen – ohne, dass man es merkt. Im eigenen Bewusstsein scheint der Partner/die Partnerin die bremsende Kraft zu sein, man selbst möchte ja schließlich weiterkommen.

Spannendes Thema.

Ich selbst werde in Zukunft sicher genauer drauf achten, wie ich reagiere. Eine Frage bleibt jedoch offen: Gibt es auch Beziehungen, die sich nicht retten lassen? Scheitern Paartherapien nur, wenn der Konfliktbewältigungswille des Paares zu gering ist oder gibt es auch eine Nicht-Kompatibiliät?

Natürlich beschreibt das Autorenpaar ausschließlich erfolgreiche Konfliktlösung, alles andere wäre ja auch blöd. Trotzdem. Ein bisschen beschleicht mich das Gefühl, dass man jede Beziehung zu retten versuchen sollte. Manchmal will man das aber doch gar nicht. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte meinen ersten Freund zur Paartherapie geschleppt, als er mit mir Schluss gemacht hat … Du meine Güte. Gäbe es einen Punkt, an dem die Therapeuten meinem Partner und mir raten würden: „Ach, lassen Sie’s, das hat echt keinen Sinn.“? Klar, die zu Therapierenden kommen in die Praxis, weil sie ihre Beziehung retten wollen. Von „Liebe“ war dabei aber nie die Rede. Vielleicht ist das schon wieder zu selbstverständlich, aber für mich wäre das aber doch die erste Frage, die zu klären ist.

Besonders spannend sind übrigens die Episoden aus dem eigenen Leben der Therapeuten. Unglaublich persönlich. Eine gute Idee, den Beziehungsproblembelasteten zu zeigen, dass es ihnen auch nicht besser geht und dass auch sie um ihre Partnerschaft kämpfen müssen, auch wenn mir die Beschreibungen ja manchmal ein bisschen peinlich waren. Wenn ich jemals zu einer Paartherapeutin gehe,** möge sie mir intime Details aus ihrer Vergangenheit bitte verschweigen.

Fazit: Wer sich und der eigenen Beziehung auf den Grund gehen möchte, lese dieses Buch. Wer schwerwiegende Beziehungsprobleme hat, lese dieses Buch und begebe sich dann in eine Paartherapie. Wer in der Paartherapie erfährt, dass viele Probleme aus der eigenen Kindheit herrühren, lese dieses Buch und begebe sich mit mindestens einem Elternteil in den Generationen-Workshop.

Wer Kinder hat, lese dieses Buch, um Verhaltensmuster frühzeitig zu entlarven. Wer Eltern hat,*** lese dieses Buch, um Verhaltensmuster zu erkennen, bevor sie zum Beziehungsproblem werden.

* Übrigens ist auch das ein Thema im Buch: mit Erinnerungen verknüpfte Gerüche / mit Gerüchen verknüpfte Erinnerungen

** weiblich ist wahrscheinlicher

*** „Eltern“ steht stellvertretend für alle, die an der eigenen Erziehung einen Anteil hatten.