Beerdigungen – Leni bloggt (8)

Die Waffen schweigen. Der Krieg ist vorbei. Aber ich kann mich nicht richtig freuen. Helene geht es noch immer nicht gut, sie liegt in dem überfüllten Krankenhaussaal und wir können nicht nach Hamburg weiter. Klaus geht es besser, aber auch er ist geschwächt.

Ich möchte endlich meinen kleinen Hans holen und Christian beerdigen. Ich lasse die verzweifelten großen Kinder zurück und schlage mich nach Osten durch. Überall finden Aufräumarbeiten statt, Leichen werden begraben. Ich muss mich beeilen. Irgendwo muss das kaputte Auto doch zu finden sein. Das Auto, in dem Christian liegt.

Und ich finde es.

Ich trage den kleinen Menschen auf ein Feld und begrabe ihn abseits der Massengräber. Ich präge mir den Ort genau ein. Doch als ich mich zum Gehen wende und die Straße erreiche, kommen mir Zweifel. Noch einmal zurück. Da ist das Grab.

Nun muss ich weiter nach Osten, immer gegen den Strom, der deutlich abnimmt. Ich will zu meinem Jüngsten, der seit über einer Woche auf mich wartet. Von einem amerikanischen Soldaten habe ich einen Passierschein bekommen, doch wieder scheitere ich am Russen. Hier stehe ich und kann nicht zu meinem Sohn. Zwei Kinder auf der einen, eins auf der anderen Seite. Das Risiko ist zu groß. Ich kehre nach Schwerin zurück.

Auf dem Weg noch einmal zu Christians Grab. Doch das Autowrack ist fort, alle Felder sehen gleich aus. Ich finde ihn nicht.


So sah Lenis Kriegsende aus. Ihr Mann Friedrich ist unterdessen aus der russischen Gefangenschsft geflohen und unterwegs nach Norden, zum Gut.


Tagsüber verstecken, nachts zu Fuß durch den Wald. Ich orientiere mich am Nordstern. Der Hunger ist übermächtig, aber ich muss weiter. Noch in der Dunkelheit grabe ich mich im Laub ein, damit mich niemand entdeckt. Dann, eines morgens höre ich Gelächter.

Das Unfassbare ist geschehen.

Ich habe mich mitten in einem russischen Biwak versteckt. Mongolisch aussehende Soldaten stehen um mich herum, fuchteln mit Pistolen. Ich lache mit ihnen, was bleibt mir übrig? Man wirft mir ein Stück Brot zu, dann stutzt der eine und deutet auf meine Hand. Den goldenen Ehering wollen sie haben.

„Der geht nicht ab“, sage ich und ziehe mir am Ringfinger. Mein Gegenüber zückt einen Dolch. Auf wundersame Weise lässt sich der Ring nun doch vom Finger ziehen.

Und dann stehen wir da. Pistolengefuchtel.

Ich bin ganz ruhig.

Das Gefuchtel wird stärker und schließlich begreife ich, was der Mann von mir will: Ich soll abhauen.

Ich haue ab. An diesem Tag ist an Schlaf nicht zu denken.

Und dann, endlich, erreiche ich den kleinen Ort am Gut.

„Wissen Sie etwas über meine Familie?“, frage ich die Erstbeste. „Die vom Gut? Die sind alle tot“, lautet die Antwort.

Es ist nicht mehr weit, durchhalten, es kann nicht stimmen, was die Frau gesagt hat. Ich erreiche das Gut nach insgesamt mehr als 100 km zu Fuß.

Menschen mit durchgeschnittenen Kehlen. Das Herrenhaus ist vollkommen verwüstet. Nach und nach erfahre ich, was passiert ist.

Der Besitzer habe seine Familie erschossen. Nein, das kann nicht sein. Das wäre ja ich gewesen. Oder Albrecht. Dann war es der Verwalter. Sich und seine Frau wollte er auch töten, doch beide haben überlebt. Und die wahren Besitzer? Wo ist Leni, wo ist meine Schwägerin Elfi? Wo die Kinder?

Schulterzucken. Vielleicht sind sie noch rechtzeitig geflohen. Nein, von hier aus kommen Sie jetzt nicht mehr nach Westen.

Im Bootshaus finde ich eine Angel. Ich begrabe herumliegende Leichen, meine Familie ist nicht dabei.

Ich brate mir Fisch.