„Taube Nuss“ von Alexander Görsdorf

Wie war das im Mittelteil?

Wie war das im Mittelteil?

„Nichtgehörtes aus dem Leben eines Schwerhörigen“

Ein Buch über die Erlebnisse eines Schwerhörigen. Natürlich weiß ich, dass es Schwerhörige gibt. Außer mit Else, der 88-jährigen Tante-Emma-Laden-Besitzerin im Ort, habe ich aber im täglichen Leben keinerlei Kontakt mit Schwerhörigen. Auch nie gehabt. Bis auf ein einziges Mal. Glaube ich. Glaubte ich. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.
Ich dachte ja immer, wenn man schwerhörig ist, beschafft man sich ein Hörgerät und gut ist. Ich kann meine Kurzsichtigkeit ja auch ausgleichen. So einfach ist es aber offenbar nicht. Hörgeräte sind launischer als Brillen und nehmen keine Rücksicht auf die Wichtigkeit der Geräusche. Noch dazu müssen sie ständig mit frischen Batterien versorgt werden.

Alexander Görsdorf beschreibt in kurzen Episoden, was er im täglichen Leben mit seiner Schwerhörigkeit erlebt – oder vielmehr, nicht erlebt. Von einem Missverständnis gerät er ins nächste, stolpert von einem gescheiterten Lösungsversuch zum nächsten. So lernt er aus bezahltechnischen Gründen die Brötchenpreise auswendig und unterstellt eines Tages der Bäckerin, sie würde ihn übers Ohr hauen (figurativ gesprochen), weil die Anzeige auf der Kasse nicht mit dem von ihm errechneten Betrag übereinstimmt. Das Ganze ist ein Missverständnis, denn sie hatte sich vertippt, ihm aber den korrekten Betrag genannt – er zahlt fortan nur noch mit Schein. Eine Lösung, die eine in beide Richtungen erfolgreiche Kommunikation unnötig macht.
Als Schwerhöriger hat Alexander Görsdorf wenig Chancen, einfach nur nett und umkompliziert mit Fremden zu plaudern. Schwerhörigkeit ist ab dem ersten Satz ein Thema, weil er nachfragen muss, um sein Gegenüber zu verstehen. In fremde Gespräche einklinken? Unmöglich. Spätestens beim Sex kommt es zu kniffligen Situationen – Hörgeräte raus (bequem) oder rein (nichts mitkriegen)?
Die logische Folge: Er zieht sich zurück. Ich konnte die Einsamkeit spüren und war sehr froh, dass er sich nicht unterkriegen ließ. Dieses Buch hätte auch ein wirklich deprimierendes welches werden können. Es blieb aber heiter bis wolkig. Mitgefiebert habe ich beim Einsetzen des Cochlea-Implantats. Die Angst, dass das Hören nicht besser wird, dass es doch nicht richtig war, den Eingriff vornehmen zu lassen. Und dann die Erleichterung – fast. Wenn er mit CI doch nicht alles versteht, muss das ja nichts heißen. Auch Flotthörige müssen schließlich manchmal nachfragen.

„Flotthörige“ ist übrigens bei Alexander Görsdorf das Gegenteil von „Schwerhörige“. Das sieht auf den ersten Blick lustig aus, stimmte mich dann aber doch etwas nachdenklich. Denn das eigentliche Gegenteil von „flott“ wäre ja wiederum „langsam“. Wenn man schlecht hört, ist man nicht automatisch langsam. Oder doch?
In dem Buch wird immer wieder deutlich, wie langsam sich ein Gespräch entwickelt, wenn ein Gesprächspartner ständig nachfragen muss. Wenn es sich denn überhaupt entwickelt. Der Schwerhörige begreift langsam, weil er „langsam“ hört. Das weckt bei allen anderen den Anschein, dass er ein bisschen dumm ist. Oder besoffen. Und das ist genau der Punkt, über den man nachdenken sollte. Natürlich wissen wir, dass es Menschen gibt, die schlecht hören. Natürlich wissen wir, dass sie nicht automatisch dumm sind. Theoretisch.
Else vom Tante-Emma-Laden hört sehr schlecht (trotz Hörgeräten), es ist schwierig, sich mit ihr zu unterhalten. Ich würde aber nie auf die Idee kommen, sie deswegen für dumm zu halten. Wieso auch? Sie ist eben alt.
Was aber würde ich von jemandem in meinem Alter halten, der in einem Gruppengespräch eine völlig absurde Pointe anbringt oder etwas sagt, das gerade von jemand anderem gesagt wurde? Etwas fragt, das gerade erst erklärt wurde? Wie lange wäre ich geduldig, ab wann wäre mir der Kontakt zu anstrengend? Und wenn der dann auch noch piepst, wenn man ihn umarmt? Da kann es anscheinend Rückkopplungsprobleme mit den Hörgeräten geben.

Ein wirklich schönes Buch, das nachdenklich macht und schmunzeln lässt. Insgesamt hätte ich mir manchmal mehr Drama und deutlichere Pointen gewünscht. So kratzt der Text oft nur an der Oberfläche. Das wiederum ist aber unsagbar clever, denn so bekommt man ein gutes Gefühl dafür, wie es ist, nur am Rand zu stehen und nicht mittendrin.

Ein wichtiger Beitrag zum Thema Nicht-alle-meine-Mitmenschen-sind-genau-wie-ich-und-dafür-sollte-ich-Verständnis-haben. Also: Lesen!
Wem das nicht reicht, dem sei noch das Blog des Autors ans Herz gelegt.

1 Antwort
  1. not quite like beethoven sagte:

    Habe die schöne Rezension jetzt erst gefunden. Freut mich sehr, dass Dir das Buch gefallen, das Lesen etwas gebracht hat. „Heiter bis wolkig“ finde ich übrigens sehr treffend. Und die kleine Auslegung von „flotthörig“ finde ich auch hochspannend. Mehr Drama und deutlichere Pointen merke ich mir aber definitiv fürs nächste Mal! : )

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