„Das Buch der Wunder“: Interview mit Stefan Beuse
„Nutzt du den Schmerz?“
Einen Roman „Das Buch der Wunder“ zu nennen, birgt einen gewissen Anspruch in sich. Ich zumindest erwarte dann etwas Ungewöhnliches, etwas, das mich zum Nachdenken bringt, aber bitte auf eine schöne Art, denn sonst müsste es „Das Buch der unschönen Erkenntnisse“ heißen und wer möchte das schon lesen. Mein Anspruch wurde erfüllt, ich war ordnungsgemäß an manchen Stellen verwundert, habe den Stil wahrlich bewundert und das Buch gleich ein zweites Mal gelesen. Da habe ich manche Emotionen anders empfunden – darüber habe ich mich dann aber schon nicht mehr gewundert.*
Es geht um die Geschwister Tom und Penny, die eine sehr unterschiedliche Sichtweise auf die Welt haben – Tom glaubt an den wissenschaftlichen Ansatz, den Penny mit ihren alternativen Theorien gekonnt torpediert. Aber Penny bleibt nicht für immer bei Tom, und so hat er niemanden mehr, der seine sicher stets vernünftig getroffenen Entscheidungen infrage stellt. Doch Penny hat vorgesorgt.
Ein Buch, das nachhaltige Emotionen auslöst. Kompliment. Inwieweit hattest du einen Einfluss auf die Handlung – war dir immer klar, was passieren muss, wie die Figuren reagieren werden?
Während des Schreibens zu glauben, einen Einfluss auf was-auch-immer zu haben, ist zwar notwendig, um bei der Stange zu bleiben, aber absolut trügerisch. (Erstaunliche Parallele zum Leben, übrigens.) Jedenfalls bin ich froh, erst gegen Ende gemerkt zu haben, dass da etwas entsteht, das vollkommen anders ist als das, was ich gedacht oder gewollt habe. Sowieso ist es wenig ratsam, mit Literatur etwas Konkretes zu wollen. Wer was will, soll sich mit dem Megafon auf den Rathausmarkt stellen, Flugblätter verteilen oder Mondkalendersprüche schreiben; ich habe weder einfache Aussagen noch Antworten zu bieten. Was ich habe, sind ein paar ganz interessante Fragen, von denen ich glaube, dass sie Antworten ganz tief in uns zum Klingen bringen können. „Das Buch der Wunder“ ist eine dieser Fragen.
In Pennys und Toms Familie werden Probleme lieber verschwiegen als besprochen. Das bestärkt das Gefühl des Ausgeliefertseins – dass kein Einfluss auf das eigene Schicksal möglich ist.
Puh, die große Schicksal-oder-Selbstbestimmung-Frage, oder? Aber gut. Für mich gibt es da kein „oder“. Ich verstehe Schicksal als eine Art vor der Geburt gewählte Aufgabe, die von Mensch zu Mensch verschieden ist. Ich glaube, die meisten von uns haben diese Aufgabe vergessen, was nicht bedeutet, dass sie nicht existiert. Ich glaube, du kannst deine Aufgabe ignorieren. Du kannst dich entscheiden, nicht daran zu arbeiten. Du kannst Umwege gehen, kein Problem, das ist deine Möglichkeit zur Selbstbestimmung. Nur kann es dann halt sehr, sehr ungemütlich werden. Weil das, was wir „Schicksal“ nennen, dich immer wieder an deine Aufgabe erinnert. Und wenn diese Erinnerungen unsanft, die Wake-up-Calls lauter werden, du also beispielsweise krank wirst, sprechen wir von Schicksalsschlägen. Ein Wort übrigens, das viel klüger ist als das, was wir daraus machen. Wir verstehen Schicksalsschläge als willkürliche, ungerechte Verteilung von Leid aus heiterem Himmel. Für mich sind „Schicksalsschläge“ sowas wie ein Kumpel, der dich freundschaftlich gegen die Schulter knufft, wenn du dich selbst aus den Augen verlierst. Und wenn dieser Kumpel merkt, du reagierst nicht, wird er eben deutlicher. Kennst du diesen Aimee-Mann-Song aus Magnolia? „It’s not going to stop ‘til you wise up?“ Ich glaube, das ist es, worum es auch in „Das Buch der Wunder“ geht: Wie weit kannst du dich von deinem wahren Wesen entfernen, ohne dich selbst zu verleugnen? Ab wann fügst du dir dadurch so viel Schaden zu, dass es schmerzhaft wird? Und dann: Nutzt du den Schmerz? Erträgst du ihn? Oder machst du dich nur unempfindlich dagegen?
Auf den ersten Blick scheint es auf der Welt mehr Toms als Pennys zu geben. Wissen sich die Pennys einfach nur gut anzupassen? Oder steckt in jedem von uns ein gewisses Pennypotenzial?
Ich glaube, wir tragen alle denselben Glutkern in uns. Die Sehnsucht nach einem verloren geglaubten Paradies, die Erfahrung von Einssein mit allem. Dummerweise leben wir Menschen aber in der Dualität, im Getrenntsein. Es gibt Mann und Frau, hell und dunkel, gut und böse. Das ist vor allem für jene ein Problem, die sich noch gut an das Einssein erinnern können, an das gleißende, allumfassende, molekülzerfetzende Glück, dem man als Mensch normalerweise nicht mal nahe kommt. Tom hat sich ins Menschsein gefügt, in seine Regeln, Mechanismen und Erklärungsmodelle, in die Begrenztheit. Penny aber spürt noch ursprüngliche Größe in sich. Sie weiß, dass es keine Grenzen gibt. Dass alles möglich ist, was gedacht werden kann. Insofern steckt naturgemäß in jedem von uns eine Penny. Nur meist gut versteckt unter sehr, sehr viel Kram.
Pennys Verschwinden ist für den Plot unerlässlich, trotzdem ist es schmerzhaft. Hast du andere Varianten ausprobiert oder stand ihr Verschwinden immer fest?
Es geht in „Das Buch der Wunder“ um Transformation, um die Durchlässigkeit von Grenzen, unter anderem der zwischen Geist und Materie. Dass jemand diese Grenze überschreiten muss, war immer klar. Wer also, wenn nicht Penny? Wichtig für mich war, diese Grenzüberschreitung nicht mit Fantasy-Mitteln zu erzählen. Die geheime Pforte, hinter der sich plötzlich eine sagenhafte Welt auftut: So Zeug ärgert mich immer, weil es sich der Erzähler dadurch sehr einfach macht. Wir sind ja nicht in Gotham City, aber wir sind trotzdem Helden. Deswegen wollte ich festen Boden unter den Füßen, so lange es irgend geht. Je länger dir der Leser durch eine stabile und bekannte Welt folgt, desto mehr vertraut er dir. Und je stärker er dir vertraut, desto mehr kannst du am Ende mit ihm anstellen. Wenn du ein Weltbild erschüttern willst, schaffst du das nicht, indem du eingangs sagst: Die Welt, die wir jetzt betreten, ist übrigens gar nicht echt.
Du sagst, du hast acht Jahre an dem Buch geschrieben. Wie muss ich mir das vorstellen? Wie viel hast du umgeschrieben, bis alles passte?
Das war ein kräftezehrender und sehr aufwändiger Prozess. Immer wieder neu- und umschreiben, ausprobieren, scheitern, verzweifeln, neu anfangen, kämpfen, verlieren, trotzdem wieder aufstehen, Figuren rausschmeißen, Lieblings-Handlungsstränge eliminieren, weil sie in dem Text nichts verloren haben … Der Roman hat zahlreiche Metamorphosen durchlaufen, die Transformation gibt es nicht nur inhaltlich, sondern auch formal. Genau wie die Sache mit den Frequenzen: Ich wollte, dass die im Buch beschworene Frequenzänderung auch mit dem Leser passiert, und dazu musste ich auf sämtlichen Ebenen diese kleinen Unschärfen, Irritationen, Durchlässigkeiten erzeugen, die sich zwar richtig anfühlen, es aber rein logisch – Tom würde sagen: wissenschaftlich – betrachtet nicht sind. Diese Irritation infiziert sogar die Perspektive: Es gibt da eine Erzählstimme, die nie wirklich zu verorten ist, weil sie sich ständig wandelt. Ist das ein innerer Gedankenstrom? Die Stimme eines Über-Ichs? Einflüsterungen des Dämons? „Das Buch der Wunder“ ist eine Art Spiegel, der darauf reagiert, wer wann und in welcher Verfassung hineinsieht. Zumindest fände ich es schön, wenn es so wäre.
Wie oft liest du dir einen Satz vor, bis du zufrieden bist? Schreibst du in Klausur oder lieber mit Trubel im Hintergrund?
Ich lese mir Sätze nie laut vor, aber es gibt einen Punkt, hinter dem es nicht mehr um Inhalt geht, sondern nur noch um Musik, Takt, Rhythmus. In dieser Phase brauche ich absolute Stille, um den Text wirklich zu hören. Wenn mich da irgendwas rausbringt, ein Geräusch, ein Gedanke … muss ich von vorn anfangen, um im Fluss zu bleiben. Bis ich diesen Punkt erreiche, fließen allerdings Blut, Schweiß und Tränen. Ohne jetzt versponnen klingen zu wollen: Ich arbeite so lange und so hart an Texten, bis sie ihre lyrische Essenz offenbaren.
Tom, der Ältere, schläft unten im Bett. Für mich ist das unrealistisch, meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass die Großen immer oben schlafen. War es wichtig, dass Penny oben ist? Hätten die Szenen nicht auch andersrum funktioniert?
Ich habe früher im Etagenbett auch über meiner jüngeren Schwester gelegen. Aber oben an der Decke kleben im Buch nun mal diese Leuchtsterne. Also Artefakte, Nachbildungen von Natur. Davon gibt es Einiges im Buch. Die künstlichen Seerosen im Gartenteich zum Beispiel. Das alles steht für den menschlichen Versuch, Größe auf ein erträgliches und handhabbares Format zu konfektionieren. Penny findet das natürlich unerträglich. Deswegen zerschlägt sie die Plastikrosen. Deshalb reißt sie die Leuchtsterne von der Decke. Deswegen muss sie oben liegen.
Die Mütter bleiben namenlos und kommen überhaupt ziemlich schlecht weg, wenn sie mal auftauchen, sie scheinen nur sekundär am Wohl ihrer Kinder interessiert zu sein. Die Stiefväter haben Namen und bemühen sich wenigstens um die Kinder, wenn auch eher weniger mitreißend. Als Mutter fühle ich mich da einen Hauch angegriffen.
Interessant. Ich hätte gedacht, dass alle Eltern im Buch gleich schlecht wegkommen. Sie stehen aber – genau wie die Kirche – eher für ein Prinzip. Für Konditionierung. Für maximales Angepasstsein an Macht- und Gesellschaftsstrukturen, für ein entkerntes Zombie-Leben.
A propos Kirche: Noch nie habe ich diese Strophen von „Maria durch ein‘ Dornwald ging“ gehört. Wieso kennst du die? Wird das tatsächlich irgendwo so gesungen? Ich bin völlig irritiert. Ich hielt mich für firm in diesen Dingen.
Ich komme aus Münster. Beantwortet das die Frage?
Dazu sage ich jetzt nichts. Danke für das geduldige Beantworten!
* Entschuldigt die Wortwahl. Manchmal kann ich einfach nicht anders.